Dunkle Geschichten

Dunkle Geschichten führen in verborgene Welten voller Schatten, Geheimnisse und stiller Abgründe.

Weihnachten – Der Weihnachtsbesuch

Weihnachten – zwischen Lichterglanz und Schattenhand

Der Advent bringt oft Wärme und Licht in die dunkelsten Tage des Jahres – doch manchmal verbirgt sich hinter den Kerzenschein auch etwas, das man nicht sofort sieht. In einer Nacht, in der Stille und Schatten sich vermischen, beginnt eine Geschichte, die selbst den Mutigsten den Atem rauben kann. Was sich im Schein der Adventskerzen offenbart, ist mehr als nur festliche Stimmung – es ist ein Geheimnis, das tief in der Dunkelheit lauert.

Stück für Stück tastet Lisa sich vorwärts. Erst erfühlt sie mit den Zehenspitzen die Stufe vor ihr, dann setzt sie den Fuß ab, dann erfühlt sie die nächste Treppenstufe… So schleicht sie die Treppe herunter.

Der riesige Karton, den sie die Treppe herunterträgt, nimmt ihr die Sicht. Sie sieht die Treppenstufen nicht, sieht nicht, ob sie richtig steht oder ob etwas im Weg ist. Deshalb muss sie sich so abmühen. Davon lässt sie sich allerdings nicht die gute Laune trüben. Denn gut gelaunt, das ist sie auf jeden Fall. Wie soll sie auch anders? Es ist Weihnachten, da ist man glücklich, das gehört einfach dazu.

Genau genommen ist Lisas Weihnachten schon vorbei. Die Feier ist beendet, sie räumt gerade die Deko auf. Das ändert jedoch nichts daran, dass immer noch der 24. Dezember ist und die letzten Stunden noch nachhängen.

Dieses Jahr hat Lisa zum ersten Mal mit ihrem Freund Weihnachten gefeiert. Ganz beschaulich, ganz friedlich und ruhig – es war ungewohnt für sie, weil sie sonst eher größere Familienfeiern gewohnt war. Doch heute drehte sich nicht alles um die Kinder – heute drehte sich alles um sie.

Dementsprechend verlief die Feier. Für Lisa war ein kleiner Weihnachtsbaum völlig ausreichend, sie haben keine Weihnachtslieder gesungen oder ähnliches, stattdessen haben sie es sich mit je einem Glas Wein bequem gemacht. Selbst die Bescherung war überschaubar, zumindest, was die Anzahl der Geschenke anging. Es war wunderschön.

Aufräumen muss sie jetzt trotzdem. Sie hat die komplette Weihnachtsdeko eingesammelt und im Karton verstaut, den sie nun in den Keller trägt. Dabei hätte sie absolut kein Problem damit, noch ein paar Tage lang in Weihnachtsstimmung zu bleiben.

Wäre da nicht das Geschenk…

Ihr Freund hat ihr eine Reise geschenkt. Und auf einmal war ihr egal, dass er ein Weihnachtsmuffel ist und davon sprach, dass er am liebsten auf den ganzen Weihnachtsquatsch verzichten würde. Sie tun es, er erspart sich die zwei Weihnachtsfeiertage. Im Gegenzug dafür bekommt Lisa eine Reise – und da verzichtet sie sehr gerne auf Weihnachtsstimmung.

Morgen ist es soweit. Morgen fahren sie los. Und da auch sie keine Lust darauf hat, nach Weihnachten in eine weihnachtlich geschmückte Wohnung zurückzukehren, räumt sie auf.

Alleine.

Ihr Freund musste in die Arbeit, eine letzte Nachtschicht vor dem Urlaub – schön zwischen die kleine Weihnachtsfeier und die Reise gedrückt. Deshalb ist sie so glücklich. Hinter ihr liegt ein traumhafter Abend, vor ihr ein garantiert fantastischer Urlaub…

Sie wird aus ihren Gedanken gerissen, im wahrsten Sinn des Wortes. Denn plötzlich ist da eine Hand in ihren Haaren und packt zu und reißt ihren Kopf ein Stück nach hinten. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Kopfhaut, sie schreit auf. Die Freude ist vergessen, ein ganz anderes Gefühl hat nun das Kommando übernommen: Angst, panische Angst.

Was soll sie tun?

Lisa versucht, sich zu drehen, um einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen – diese Info würde ihr zumindest ein bisschen weiterhelfen. Würde ihr zeigen, ob es sich rentiert, sich zu wehren…

Warum hat sie nichts mitbekommen?

Immer wenn sie durch das Treppenhaus läuft, achtet sie darauf, ob sie jemanden kommen hört – eigentlich noch nicht mal aus Angst, sondern hauptsächlich deswegen, weil sie keine Lust hat, mit den Nachbarn zu sprechen. Und auch jetzt hat sie aufgepasst, dachte sie. Derjenige, der sie so rabiat überfallen hat, muss sich extrem unauffällig angeschlichen haben.

Es ist erstaunlich einfach, den Kopf zu drehen. Der Schmerz in der Kopfhaut bleibt, doch er wird auch nicht stärker.

Und dann kommt der nächste Schock: Das Treppenhaus ist leer.

Außer ihr ist niemand hier. Nur sie und der Karton, der ihr aus den Händen gefallen ist. Immerhin hat sie schon die letzten Stufen erreicht und der Karton ist auf eine gerade Fläche gefallen, scheinbar ohne dass etwas dabei kaputt ging. Zumindest sieht er noch heil aus.

Was ist hier los? Was ist das?

Sie kann erst einmal nicht weiter darüber nachdenken. Das Ziepen wird stärker, dieses Etwas reißt wieder an ihren Haaren. Und diesmal ist es kein reines Zerren, diesmal ist es zielgerichtet – es wird so fest, dass Lisa die letzten Stufen hinunter stolpert. So wird sie bis zur Haustüre geschleift.

Ihre Augen tränen, sie hat das Gefühl, dass sich bald die Kopfhaut von ihrem Kopf ablöst. Das Wissen, dass das eigentlich nicht gehen kann, hilft ihr auch nicht weiter, das löst nämlich nur den Gedanken aus, dass sie gleich mehrere Haarbüschel verliert, wenn das so weitergeht.

Lisa muss einfach nur kurz einen Arm heben und ihren Kopf abtasten…

Aber sie kann nicht. Ihre Arme sind schwer wie Blei.

Vorher wäre es ja vielleicht noch gegangen – nach dem ersten Schreck hatte sie die Eingebung, dass ihr etwas auf den Kopf gefallen ist und sich in ihren Haaren verheddert hat. Doch das hat sich durch das Zerren erledigt. Wäre es ein Gegenstand, der sich dort auf ihrem Kopf befindet, würde er sie nicht Richtung Haustüre zerren.

Das muss etwas anderes sein – und Lisas Gehirn weigert sich schlichtweg, weitere Erklärungen aufzubringen.

Weil diese Erklärungen so schlimm wären, dass sie sie nicht verkraften würde? Reiner Selbstschutz – oder blockiert die Angst ihre Gedankenwege?

Das Ziehen hört nicht auf. Sie wird gegen die Türe gezerrt, der Türgriff bohrt sich schmerzhaft in ihre Seite. Sofort greift sie danach, öffnet die Türe und schiebt sich hinaus. Für einen Moment wird das Ziehen schwächer.

Und dann spürt sie es. Nimmt die Formen des Etwas auf ihrem Kopf wahr.

Das ist eine Hand. Lisa spürt den Handrücken, der sich gegen ihren Hinterkopf drückt, spürt verkrampfte Finger, die ebenfalls auf ihrem Kopf ruhen. Diese Finger haben sich wohl in ihre Haare vergraben. Eine Hand ohne dazugehörigen Mensch. Einfach nur eine Hand, die sie zerrt, ihr wehtut.

Lisas Knie werden schwach, doch es ist keine Zeit für Schwäche. Sie wird weiter gezogen, aus dem Vorgarten hinaus auf die Straße. Und selbst dort lässt der Griff nicht locker.

Hilflos stolpert Lisa die Straßen entlang, immer gezogen von dieser Hand.

Merkt das denn keiner? Gibt es niemanden, der beim Fenster hinaus sieht und sie bemerkt? Es muss doch verdächtig aussehen, wie ihre Haare teilweise in der Luft hängen, wie sie mit dem Kopf voran durch die Straßen stolpert.

Offensichtlich nicht. Ihr Weg bleibt menschenleer, keiner kommt ihr zu Hilfe.

Und dann kann sie auch keinen Anwohner mehr sehen – es geht in den Wald.

Spätestens jetzt wird ihr das alles zu viel. Okay, das ist es schon lange, schon seit dem ersten Ruck, doch jetzt…

Das bisschen Ruhe und Besonnenheit, das sie zurückerlangt hat, verpufft nun. Hier kann ihr wirklich keiner mehr helfen. Was auch immer diese Hand vorhat, niemand wird davon etwas mitbekommen. Keiner sieht sie, keiner hört ihre Schreie.

Diese Erkenntnis weckt ihren Kampfgeist. Sie lehnt sich gegen den Druck, versucht, zurück zu den Häusern zu laufen.

Doch es ist nur ein kurzes Auflehnen – ein weiterer Ruck zeigt ihr, warum sie sich das die ganze Strecke über gefallen ließ.

Sie ist chancenlos.

Weiter geht der Weg, über Stock und Stein und nun stolpert Lisa endgültig mehr als sie läuft. Wie sie sich auf den Beinen hält, weiß sie nicht, doch es klappt irgendwie, auch wenn sie sich immer wieder auf dem Boden abstützen muss.

Ihre Knie tun weh, ihre Füße, ihre Handflächen, die schon ganz dreckig sind, ihr Kopf sowieso, doch die Hand zeigt kein Erbarmen. Sie gewährt ihr keine Pause, zerrt sie immer weiter, weiter, weiter.

Es wird dunkler um sie herum, die Bäume stehen dichter und von den nächsten größeren Straßen ist inzwischen überhaupt nichts mehr zu hören.

Die Angst ist wieder da, hat sie voll im Griff. Und gleichzeitig hält sie sie auch auf den Beinen. Egal was kommt, sie muss laufen.

Zumindest solange, bis das Zerren auf einen Schlag verschwunden ist.

Plötzlich hängt die Hand ganz locker in Lisas Haaren, sie spürt ein ganz leichtes Ziepen, doch im Gegensatz zu gerade eben ist das nichts.

Es ist vorbei. Der Weg ist zu Ende und… Was nun?

Hier ist es etwas heller, zwischen den Bäumen ist mehr Abstand und so kann mehr Sonnenlicht durch die Baumwipfel dringen. Erst jetzt schafft Lisa es, sich umzusehen, ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen – bis gerade eben hat sie sich nur auf den Boden unter ihren Füßen konzentriert, für alles andere war keine Zeit hier.

Sie ist alleine. Außer ihr und der Hand ist niemand hier.

Es ist fast schon schön hier – es wäre schön, wenn sie nicht unter so skurrilen Umständen hier gelandet wäre.

Und was sie noch davon abhält, die Stelle schön zu finden…

Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, ihr Herz fühlt sich an, als hätte sich eine eiskalte Hand darum geschlossen. Sie hat wieder Angst, doch irgendwie ist es ganz anders als zuvor. Als wäre es nicht ihre eigene Angst.

Die Hand legt sich an ihren Hinterkopf, sie spürt die Knöchel, die sich gegen ihren Schädelknochen drücken. Intuitiv macht sie einen Schritt zur Seite.

Und dann sieht sie, warum sie hier ist – was hier so merkwürdig ist, was dem Platz die unschuldige Schönheit raubt.

Von hier aus kann sie an den Büschen vorbeiblicken, die direkt vor ihr wuchern. Von alleine macht sie noch einen Schritt zur Seite, um ihr Blickfeld noch weiter zu vergrößern, doch schon der erste Blick hat gereicht, um zu erkennen, was sich dort hinter den Büschen verbirgt.

Ein Körper.

Hinter den Büschen liegt ein lebloser Körper. Die eiskalte Hand um ihr Herz packt noch fester zu, sie schluckt. Es ist ein kleiner, schmaler Körper, der Körper eines Mädchens oder einer jungen Frau, so genau kann Lisa ihr Alter nicht einschätzen.

Ihre Haut ist blass, fast schon weiß, unter den Augen hat sie sehr dunkle Augenringe. Ihre blonden langen Haare liegen wie ein Teppich um ihren Kopf herum – es wirkt wie ein Heiligenschein. Sie trägt ein blaues, geblümtes Kleid und darüber eine dunkelblaue Jacke, die offen steht.

Dann gleitet Lisas Blick zu ihren Armen und der Kloß in ihrem Hals wird noch größer. Eine Hand des Mädchens liegt schlaff neben ihr, sogar von hier aus erkennt Lisa den farblich perfekt zum Kleid passenden hellblauen Nagellack an ihren Fingernägeln.

An ihrem anderen Arm ist… nichts. Das Handgelenk ist ein blutiger Stummel, die Hand fehlt.

Lisas Augen brennen, sie spürt, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen laufen. Die Angst ist wie weggeblasen, sie fühlt nur Trauer – eine unendliche Schwere.

Die Hand beginnt, ihren Kopf zu tätscheln. Ganz sanft und liebevoll und irgendwie… dankbar.

Diese fünfte Geschichte schließt die Weihnachtsserie mit einem letzten, eindringlichen Kapitel ab, das weit entfernt ist von den klassischen Bildern von fröhlicher Besinnlichkeit und warmem Kerzenschein. Über die vorherigen vier Geschichten hinweg haben wir unterschiedliche Facetten des Advents und der Weihnachtszeit erlebt – mal zart und hoffnungsvoll, mal nachdenklich und geheimnisvoll. Doch nun, im finalen Akt, wird die Oberfläche von Weihnachten aufgebrochen, um das Verborgene zu zeigen: die Schatten, die auch in der hellsten Zeit des Jahres existieren. Diese Erzählung zeigt, wie dünn die Grenze zwischen Freude und Angst sein kann, wie leicht das Licht vom Dunkel verschluckt wird – gerade dann, wenn das Herz eigentlich voller Wärme sein sollte. So wird der Advent nicht nur zum Warten auf das Fest, sondern auch zum Blick in das Unbekannte, das hinter der festlichen Fassade lauert.

Weihnachten ist mehr als nur Lichterglanz und frohe Lieder – es ist ein Moment, der uns mit all seinen Facetten berührt: die Sehnsucht nach Nähe, die Einsamkeit, die Hoffnung auf Rettung und auch das Bewusstsein für das Zerbrechliche im Leben. In dieser Zeit, in der die Welt stillzustehen scheint, öffnen sich auch Türen zu längst verdrängten Ängsten und Erinnerungen. Vielleicht liegt gerade darin die eigentliche Magie von Weihnachten – nicht nur im Glanz, sondern auch im ehrlichen Annehmen der Dunkelheit, die dazugehört. So werden wir eingeladen, mit einem wachen Herzen durch die Nacht zu gehen, denn hinter jedem Schatten kann ein Licht warten.

Inmitten von Dunkelheit und Schatten wünschen wir Ihnen dennoch ein Weihnachten, das Mut macht – ein Weihnachten, das Raum lässt für alle Gefühle, die diese Zeit mit sich bringt. Möge das Fest Ihnen trotz aller Geheimnisse und Ängste auch einen Moment der Ruhe schenken, ein kleines Licht in der Nacht, das Ihnen Hoffnung und Kraft gibt. Frohe Weihnachten – in all ihrer Vielschichtigkeit und Tiefe.

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4. Advent: Der Weihnachtsbesuch

 

Die Nacht des Schreckens

Der vierte Advent liegt schwer in der Luft, erfüllt von einer stillen Erwartung, die mehr verbirgt, als das sanfte Kerzenlicht verrät. Zwischen warmen Schatten und flüchtigen Momenten lauert ein Geheimnis, das die scheinbare Ruhe durchdringt und den Tag unvergesslich macht. Was verbirgt sich hinter dem scheinbar vertrauten Bild eines beschaulichen Advents?

Lächelnd lehnt Bernd im Türrahmen. Eigentlich sollte er sich jetzt davonschleichen – die Türe ganz vorsichtig schließen, das Licht im Gang löschen und ins Wohnzimmer zurückkehren. Später. Gleich. Er möchte noch ein bisschen stehen bleiben.

Die Nachtlampe, die Nils vom Weihnachtsmann bekommen hat, taucht den Raum in ein ganz schwaches Licht, das Licht vom Gang wirft einen helleren Streifen ins Zimmer. Ungestört davon liegen Nils und Lars in ihren Bettchen, die Augen geschlossen. Sie schlafen beide – sind beide nach dem aufregenden Abend fast umgehend eingeschlafen, als Bernd sie ins Bett gebracht hat. Seine kleinen Racker… Vorher waren sie noch kaum aufzuhalten, jetzt sind sie wesentlich ruhiger. Und auch wenn er gerne so tut, als würde er sie nur ruhig ertragen, liebt er sie sowohl ungestüm als auch schlafend – und alles dazwischen.

Okay, nun ist aber wirklich Zeit, die beiden alleine zu lassen. Nur noch gucken, ob mit den Bettdecken noch alles passt, ob sie dort sind, wo sie sein sollen… Nein, nicht nötig. Gerade vorher erst hat er sie ganz sorgfältig zugedeckt und hätte einer der beiden seine Decke weggestrampelt, hätte er das bemerkt. Er kann ganz beruhigt die beiden alleine lassen.

Dann mal ab ins Wohnzimmer. Das Zimmer des Grauens. Natürlich durften die Steppkes nur die schönen Seiten des Weihnachtsfests genießen, für alles andere ist er zuständig. Dementsprechend wartet auf ihn noch eine größere Aufräumaktion, bevor auch er an der Matratze lauschen darf. Geschenke sortieren, Geschenke aufräumen, Geschenkpapier wegwerfen… Klingt ja ganz überschaubar und genau das redet er sich ein. Klappt jedoch nicht, weil er ganz genau weiß, dass sich das ziehen kann.

Nils und Lars waren sorgfältig, sie haben wirklich jedes Geschenk aus sämtlichen Verpackungen gerissen, haben jedes Geschenk getestet und das sieht man dem Wohnzimmer an. Leider hat sich daran nichts geändert, als er ins Wohnzimmer kommt. Immerhin bemerkt er, dass sie einen Großteil der Verpackungen auf einen Haufen geworfen haben – das erspart ihm ein bisschen Arbeit. So muss er nur den Haufen durchgehen und nach Müllart sortieren.

Auch hier bleibt Bernd erst einmal im Türrahmen stehen. Sein Blick gleitet über das Chaos und obwohl er weiß, was ihm schwant, muss er lächeln. Sofort sind die Erinnerungen an vorher in seinem Kopf, daran, wie der kleine Nils seine Holzeisenbahn durchs Zimmer zog, daran, wie Lars ganz konzentriert versucht hat, die Polizeistation aufzubauen. Er hat es nicht geschafft und nur Bernds Versprechen, dass sie sich morgen darum kümmern, hat ihn dazu gebracht, es für heute gut sein zu lassen und ins Bett zu gehen.

Vielleicht sollte er den restlichen Aufbau übernehmen. Damit Lars eine fertige Polizeistation vorfindet, wenn er morgen früh aufwacht. Nein, das sollte er nicht tun. Das ist Lars‘ Aufgabe, er muss das selbst machen. Würde Bernd das tun, wäre er ziemlich sicher ziemlich wütend. Da kann es ihm noch so sehr in den Fingern kribbeln – er darf das Spielzeug seines Sohnes nicht benutzen. Zumindest nicht, wenn es so offensichtlich ist.

Mitten im Raum liegt eine Papierrolle. Sieht nach Geschenkpapier aus – nach einem ziemlich großen Stück, das einer der beiden, vermutlich der etwas geschicktere Lars – verhältnismäßig ordentlich abgelöst hat. Sie ist auseinander gerollt und an den Ecken mit kleinen Farbtöpfchen beschwert, die weiße Seite zeigt nach oben, sogar von hier aus sieht Bernd die Farbflecken darauf.

Ah ja, da hat dann wohl Nils seine neuen Fingerfarben ausprobiert, während sein Vater und sein großer Bruder damit beschäftigt waren, das Fundament für das Polizeipräsidium zu legen. Dieses Kunstwerk muss er noch retten – im Gegensatz zur Polizeistation darf er es anfassen. Muss er sogar, sonst geht es noch kaputt. Eines der Eimerchen ist nämlich verrutscht, so dass sich die entsprechende Ecke aufrollt. Nicht, dass sie in die Farbe rollt… Gleich. Das muss noch warten. Im Moment liegt das Papier ruhig da, es eilt also nicht.

Lieber lässt er noch einmal die letzte Zeit Revue passieren. Das Weihnachtsfest war ein voller Erfolg, könnte er sagen, wenn er seinen Berufsjargon benutzen würde. Aber das passt nicht – es ist mehr als das. ‚Voller Erfolg‘ ist so emotionslos und Emotionen waren da ganz viele im Spiel. Vom Anfang bis zum Ende war alles wunderbar. Natürlich mit kleineren Problemchen, mit kleineren Reibereien, doch im Großen und Ganzen… Sie haben das volle Programm durchgespielt.

Adventskranz selbst basteln, Bernd hat den beiden jeweils einen Adventskalender gebastelt, sie haben sogar Plätzchen gebacken, von denen niemand außer ihnen etwas abbekommen hat, weil sie sie so schnell verdrückt haben. Dann haben sie zusammen das Wohnzimmer aufgeräumt, um Platz für den Baum zu haben, den sie gemeinsam geschlagen haben. Auch das Aufstellen und Schmücken haben sie miteinander erledigt und obwohl der Baum in den Augen eines neutralen Betrachters ziemlich hässlich aussehen muss, ist es der schönste Baum, den Bernd jemals gesehen hat. Er repräsentiert sie, es ist ihr Baum, ihr Baum, den sie nach ihren eigenen Vorstellungen geschmückt haben. Und auch wenn andere Leute nicht gerade begeistert von auf Schnüren aufgefädelten Matchboxautos am Weihnachtsbaum wären, war es genau das, was sie wollten.

Dann noch die Bescherung… Am liebsten würde Bernd die Zeit zurückdrehen, zumindest die letzten paar Stunden noch einmal durchleben. Es war so idyllisch, so besinnlich, aber gleichzeitig auch entspannt und fröhlich – ein voller Erfolg eben. Die Jungs würden das wohl anders sehen. Sie haben so sehr auf die Bescherung hingefiebert, sie waren so glücklich, als sie endlich ihre Geschenke öffnen durften. Bernd ist sich ziemlich sicher, dass sie sich das nicht mehr wegnehmen lassen würde.

Okay, nun hat er aber wirklich genug sinniert. Bernd macht ein paar Schritte in den Raum hinein, überlegt sich dabei, wo er am besten anfängt. Beim Müllberg macht es wohl am meisten Sinn – dann kann er den anderen Müll, der noch auftaucht, gleich richtig sortieren.

Auf dem Weg dorthin erblickt er die Zeichnungen, die auf der Couch liegen. Die beiden waren richtig kreativ – oder einfach nur so aufgeregt, dass sie dieser Aufregung mithilfe von ziemlich vielen Zeichnungen freien Lauf lassen mussten. Auf mehreren ist das Weihnachtsszenario zu sehen, Lars hat sogar ein paar seiner Geschenke treffsicher gemalt. Zumindest interpretiert Bernd die Zeichnungen so. So gerne die Jungs auch malen – große Künstler sind sie noch nicht. Noch sind sie nicht an dem Punkt angelangt, an dem Bernd nicht mehr verzweifelt, wenn Lars ihm ein Bild unter die Nase hält und ihn fragt, ob er erkennt, was darauf zu sehen ist.

Mh, er könnte ja kurz noch einmal die Bilder ansehen… Bernd nimmt auf der Couch Platz, er schnappt sich die Zeichnungen und blättert sie durch. Sein Lächeln wird von Blatt zu Blatt tiefer – auch wenn er nicht ganz sicher ist, was das alles darstellen soll, berührt es ihn, wie viel Mühe sie sich gegeben haben, um ihm ein schönes Weihnachtsgeschenk bieten zu können.

Ein Bild von einem Weihnachtsbaum mit einem großen Rennauto darunter – gut, Lars hat ein wesentliches kleineres Exemplar bekommen, lag aber trotzdem nicht allzu weit daneben –, ein Bild von Rudolph, dem Rentier mit der roten Nase, dessen Geschichte Bernd den beiden vorgelesen hat, wieder zwei Weihnachtsbaumbilder, erst eines, auf dem die Polizeistation zu sehen ist, die Lars tatsächlich bekam, dann eines, auf dem drei Strichmännchen vor dem Baum stehen, ein Bild, auf dem nur eine Hand zu sehen ist, wieder ein Weihnachtsbaumbild, diesmal von Nils. Der Baum ist nur an den Farben zu erkennen – da hat Lars ihm vermutlich geholfen. Und das, was unter dem Baum liegt, ist unkenntlich.

Das Lächeln bleibt, als Bernd die Blätter zur Seite legt und sich erhebt. Jetzt ist es aber wirklich höchste Zeit für die Aufräumaktion. Das Altpapier lässt er vorerst beiseite, als erstes will er sich um die Zeichnung seines Jüngsten kümmern. Nicht, dass doch noch etwas passiert… Auch wenn es ihm selbst vermutlich mehr wehtun würde als Nils. Der hat noch keine Ahnung, was ‚ideeller Wert‘ bedeutet.

Als er vor dem bemalten Geschenkpapier steht, erkennt er erst, was darauf zu sehen ist. Keine Farbkleckse – zumindest keine sinnlosen Farbkleckse. Es sind Buchstaben. Buchstaben. Seine Jungs können noch nicht schreiben. Für einen Moment fühlt es sich an, als würde die Welt stillhalten. Er starrt fassungslos auf die Buchstaben, sieht, dass sie von jemandem stammen müssen, der mehr als nur ein paar zufällige Striche gemalt hat, doch er schafft es nicht einmal, die Buchstaben bewusst wahrzunehmen, sie zu lesen. Ebenso wenig kann er darüber nachdenken, was das zu bedeuten hat – auch sein Denken steht still.

Dann gerät alles wieder in Schwung, sein Blick gleitet weiter und er sieht die Hand. Eine Hand. Eine schmale Frauenhand mit blau lackierten Fingernägeln liegt am Rande des Papiers, dort, wo die aufragende Ecke einen Schatten bildet. Ihre Fingerspitzen sind bunt, Bernd erkennt sofort die Fingerfarbe.

Eine Hand. Eine abgetrennte Hand, die am Ende der Botschaft liegt, so, als wäre sie zusammengebrochen, nachdem sie die Botschaft zu Ende geschrieben hat. ‚Hilfe‘ steht dort, ganz groß, ganz krakelig, in allen Farben, die die kleinen Farbtöpfe hergeben.

Plötzlich verlangsamt sich die Welt wieder, er fühlt sich, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Bernd schlägt sich die Hand vor den Mund, er macht einen Schritt zurück, spürt etwas an seinem Fußgelenk, bemerkt, wie er den Halt verliert. Noch im Fall erlangt er die Erkenntnis, dass das, wogegen er gestoßen ist, die Holzeisenbahn des Kleinen gewesen sein muss, dann kommt er auf den Boden auf. Sogar das laute Knacksen hört er noch.

Dann hört, fühlt und sieht er nichts mehr.

Die Nacht schweigt – doch am Weihnachtsabend wird das Schweigen zerbrechen. Ein neues Geheimnis wartet.

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3. Advent: Der Weihnachtsbesuch

 

Wenn die Vergangenheit leise anklopft

Draußen liegt die Stadt im dumpfen Schweigen, nur hin und wieder durchbrochen vom Knistern des Windes an den Fenstern. Drinnen, im warmen Zwielicht eines alten Hauses, verharrt jemand in regloser Stille – als lausche er auf etwas, das nur er hören kann. Zwischen vergilbten Seiten und verblassten Gesichtern beginnt ein leiser Schatten zu wachsen, einer, der längst vergessen schien.

Ein zartes Klimpern durchdringt die Stille im Erdgeschoss des kleinen Häuschens. Es ist eine sachte Melodie, sehr ruhig und langsam und ganz gewissenhaft gespielt. Etwas Schwermütiges haftet an ihr und das liegt nicht nur daran, dass sie nur aus tiefen Tönen besteht. Trotz dieser Einseitigkeit klingt sie nicht falsch. Jeder Ton passt, jeder Ton ist dort, wo er sein sollte.

Heinrich ignoriert die Musik. Sein knorriger Finger liegt auf einer Seite des Fotoalbums, das aufgeschlagen vor ihm liegt – auf einem Foto, um genau zu sein. Sein Blick ist fest darauf gerichtet, er lässt sich von nichts ablenken. So sitzt er schon länger da. Mit gekrümmtem Rücken, gesenktem Kopf und Blick ins Fotoalbum. Nur hin und wieder bewegt er sich, um ganz langsam die großen Seiten umzublättern, eine nach der anderen, immer sehr bedächtig.

Weihnachten. Ein weiteres Weihnachtsfest, das er alleine verbringt. Heinrich hat keinen Weihnachtsbaum, keine Weihnachtsdekoration, noch nicht einmal Geschenke. Während die restliche Bevölkerung hektisch durch die Innenstadt jagte, auf der Suche nach Geschenken, schlurfte er zwischen ihnen hindurch, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, nur um ein paar Lebensmittel zu besorgen, nur das Nötigste.

Mathilda, sie fehlt ihm. Sie fehlt ihm jeden Tag, aber an Tagen wie diesen ganz besonders. Man kann nun einmal nicht vergessen, mit wem man einen Großteil seines Lebens verbracht hat und Mathilda war nicht nur einen Großteils seines Lebens an seiner Seite, sie war ein Großteil seines Lebens. Mathilda und Heinrich, Heinrich und Mathilda, sie waren eine Einheit, durch nichts und niemanden zu zerstören. Nur durch den Tod.

Mathilda ging. Sie ging und ließ ihn zurück, ganz alleine. Denn wen gab es außer ihr schon? Ganz am Anfang Schulkameraden, dann Arbeitskollegen, dann Nachbarn und Bekannte. Alles nette Leute, keine Frage, er hat sich gut mit ihnen verstanden. Mit den meisten nicht ganz so gut wie Mathilda, die ein unglaublich offener Mensch war, zwar keiner, der sich mit jedem anfreundete, doch zu ihren Freunden und Bekannten hatte sie ein sehr enges Verhältnis.

Es war ihm nie wirklich bewusst, sie waren ja schließlich eine Einheit. Dass Mathilda einen Großteil der Freundschaften ausgemacht hat, wurde ihm erst bewusst, als sie weg war und er die ganze Last tragen hätte müssen. Heinrich ist einsam und es ist ihm bewusst. Trotzdem ändert er nichts daran, kann es einfach nicht. Alles fühlt sich so leer an ohne Mathilda, auch all die Freundschaften, die sie im Laufe der Jahre geknüpft haben. Ohne Mathilda geht es einfach nicht.

Familie gibt es nicht. Heinrich war – für seine Zeit untypisch – ein Einzelkind, Mathilda hatte zwar mehrere Geschwister, doch alle bis auf einen Bruder, dessen Spur sich nach Amerika verloren hat, sind bereits gestorben. Weitläufigere Verwandtschaft war nicht ihr Ding, vor allem Mathilda bevorzugte es, sich mit selbst ausgewählter Gesellschaft zu umgeben, statt zwangsweise Menschen einzuladen. Sie blieben kinderlos. All die Jahre über, selbst dann, als alle anderen in ihrem Umfeld erst Eltern und nicht allzu viel später die ersten schon Großeltern wurden. Nein, es gab nur sie beide, die ganze Zeit über.

Und jetzt gibt es nur noch Heinrich. Nun bewegt sich sein Finger etwas. Er streicht über das Foto, über die Wange einer Frau, die an ein Auto gelehnt steht. Mathilda. Seine Mathilda, damals bei ihrem Ausflug nach Sizilien…

Obwohl Heinrich im Laufe der Zeit immer mehr vergisst, hat er das Gefühl, dass er sich an immer mehr Details seines Lebens mit Mathilda erinnern kann. Ständig kehren Erinnerungen zurück, so wie jetzt, wo er das Auto mustert und ihm einfällt, wie sie auf einer italienischen Autobahn versuchen mussten, einen Reifen zu wechseln. Mehrere hilfsbereite Autofahrer hielten neben ihnen an, doch da sie alle Einheimische waren und Heinrich und Mathilda der italienischen Sprache nicht mächtig, mussten sie sich mit Händen und Füßen verständigen und die Reparatur artete in eine Scharade aus.

Heinrich lächelt ganz leicht. In seinem Lächeln steckt unglaublich viel Wehmut. Wenn Mathilda heute hier wäre… Es würde nach Weihnachtsgans riechen, so wie all die Jahre. Mathilda war ein unglaublich spontaner Mensch, hat es gehasst, sich festlegen zu müssen, doch die Weihnachtsgans war Tradition. Heinrich hat sich nicht darüber beschwert – auch er hatte einen Hang zu Spontaneität, war dort jedoch nicht so konsequent wie seine Frau.

Wenn ihm etwas gefallen hat, konnte er sich dort problemlos festlegen. Und so war es auch bei der Gans: Sie hat ihm unglaublich gut geschmeckt, also hatte er kein Problem damit, sie jedes Jahr wieder serviert zu bekommen. Im Gegenteil – er hat sich jedes Jahr wieder darauf gefreut. Dieses Jahr gibt es keine Weihnachtsgans. Nur etwas Kartoffelbrei mit Sauce.

Was den Haushalt angeht, lässt er sich nicht lumpen. Würde Mathilda das Haus sehen können, wäre sie echt zufrieden mit ihm – er räumt regelmäßig auf, gibt Acht darauf, dass alles sauber und ordentlich ist. Etwas Besseres hat er ja nicht zu tun. Er kann nur darauf achten, dass alles, was ihn an Mathilda erinnert, die Zeit übersteht. Und die meisten Erinnerungen stecken nun einmal in diesem Haus.

Endlich nimmt er das Klavierspiel wahr. Sein Kopf hebt sich, doch er dreht ihn nicht Richtung Wohnzimmer, dorthin, wo das Klavier steht. Diese Musik… Sie ist schwermütig, zeichnet sich durch eine sanfte Traurigkeit aus. Obwohl er das Lied noch nie zuvor gehört hat, fühlt er sich, als wäre es eine altbekannte, lang vergessene Melodie. So wie all die Erinnerungen an Mathilda, die allmählich zurückkehren.

Mathilda würde das Lied mögen, das weiß er. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Klaviermusik und diese Einfachheit würde ihr Herz berühren. So einfach und trotzdem so ausdrucksstark… Auch sie hat Klavier gespielt. Im Laufe der Zeit immer weniger, doch Heinrich weiß noch gut, wie versonnen ihr Blick wurde, wenn sie auf dem mit rotem Samt bezogenen Hocker Platz nahm und sich ihre Finger auf die weißen Tasten legten.

Und das ist keine Erinnerung, die erst jetzt zurückkommt – das konnte er nie vergessen, wird er nie vergessen können. Wie sie dabei gelächelt hat… Er hat ihr immer gerne zugehört, aber hauptsächlich hat er sie dabei angesehen, hat sie beobachtet, wie sie in der Musik versank, wie sich ihr Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet hat, wie sie am Ende des Liedes aus ihrer Trance erwacht ist und das Lächeln blieb. Sie war wunderschön. Vor allem am Klavier.

Dann schiebt Heinrich den Stuhl zurück, er steht auf. Dabei gleiten seine Hände unter den Buchrücken des Fotoalbums und als er steht, klappt er es zu. Kurz verharrt er so, blickt auf den roten Einband herab, auf die abgestoßenen Ecken, in seinem Kopf wechseln sich die darin festgehaltenen Bilder ab wie bei einer Diashow. Es ist vorbei. Seine Zeit ist vorbei, sie ist es schon längst. Sie war vorbei, als Mathildas Herz aufhörte zu schlagen. Und nun… Es ist an der Zeit.

Heinrichs Schritte sind fest und sicher, so fest und sicher wie schon lange nicht mehr, als er zum Küchenschrank geht. Dort, unter den Glastüren, hinter denen er ganz deutlich das gute Porzellangeschirr erkennt, das Mathilda nur für Kaffee und Kuchen verwendet hat, befindet sich eine kleine Schublade. Er zieht sie heraus und entnimmt den unter einem Tuch verborgenen Revolver. Ein Überbleibsel aus alten Zeiten, dennoch gut in Schuss… Er hat ihn so lange nicht mehr verwendet, doch Qualitätsarbeit vergeht nicht so schnell. Wahrscheinlich hat er einfach nur auf Heinrich gewartet.

Als ein Knall aus der Küche ertönt, erstarrt die Hand auf dem Klavier. Dann rutscht sie von den Tasten ab und fällt auf den Boden.

Am 4. Advent, nächsten Sonntag, setzt sich das düstere Rätsel fort. Sei bereit – es wird schaurig.

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2. Advent: Der Weihnachtsbesuch

Kein Entkommen vor der stillen Rache

Nach einer wilden Partynacht kehrt endlich Ruhe ein. Die Freunde sind weg, das Chaos bleibt – und Kevin genießt den ersten Moment der Stille. Doch was als wohlverdiente Erholung beginnt, kippt jäh in eine unheimliche Stille. Eine Berührung. Eine Hand. Nur eine Hand. Und mit ihr erwacht etwas, das Kevin tiefer trifft als jeder Kater. Was will diese Hand – und warum spürt er sie noch, obwohl niemand mehr da ist?

Auf einen Schlag ist es ruhig in Kevins Wohnung. Er schließt die Wohnungstüre und es ist ruhig, einfach nur ruhig. Nur das Geräusch des Straßenverkehrs ist zu hören, das Summen seines Kühlschranks… Es tut gut.

Auch wenn Kevin echt glücklich ist und das vor allem an dem lag, was den Lärmpegel verursacht hat, tut es ihm gut, jetzt rein gar nichts zu hören, abgesehen von den kleinen Alltagsgeräuschen, die sich problemlos ausblenden lassen.

Kevin kehrt ins Wohnzimmer zurück, er steigt dabei über Flaschen, die in der ganzen Wohnung verteilt stehen. Mit Ordnung haben es seine Freunde nicht so, aber das ist in Ordnung, er ja auch nicht und wenn er morgen ausgeschlafen hat, irgendwann am Spätnachmittag vermutlich, geht er halt mit einem Müllsack durch die Wohnung und sammelt alles ein. Kein Problem, Hauptsache, sie hatten Spaß – und den hatten sie.

Im Gehen knöpft er seine Jeans auf, dann streift er sie sich von den Beinen und lässt sie einfach auf den Boden fallen. Kann er ebenfalls morgen aufheben, jetzt will er einfach nur den einengenden Stoff loswerden.

Im Wohnzimmer sieht es jetzt, wo es menschenleer ist, katastrophal aus. Auch hier stehen überall Flaschen herum, dann sind da noch die ganzen Teller, leere Packungen von irgendwelchen Süßigkeiten, irgendwelche anderen Verpackungen… Seine Freunde haben ganze Arbeit geleistet, in dem geringen Rahmen, den Kevin ihnen geboten hat, Chaos zu hinterlassen.

Und trotzdem kann und will er nicht wütend sein. Er selbst war ja auch nicht besser, er hat fleißig mitgemacht bei der Müllproduktion. Hätte er etwas dagegen gehabt, hätte er schon sein Veto eingelegt, das hat ja bei der Wohnungseinrichtung auch geklappt. Alle Möbel stehen auf ihrem Platz, unbeschädigt, soweit Kevin das sieht und das hat er seinem Veto zu verdanken.

Mann, was für eine Party… Weihnachten hat ihn in den letzten Wochen ziemlich angekotzt. Seine Freundin hat schon im November davon geredet, dass sie unbedingt ihre Familie besuchen müssen und als es ihm gereicht hat und er ihr klipp und klar gesagt hat, dass er darauf keinen Bock hat, wurde sie hysterisch. Wäre ja vielleicht noch gut gegangen, wenn nicht kurz darauf seine Affäre aufgeflogen wäre… Da war es dann endgültig vorbei mit ihnen. Sie hat ihre Sachen gepackt und ist zu ihren Eltern gezogen.

Aber jetzt, jetzt sieht die Welt wieder anders aus. Kevin wurde nicht dazu gezwungen, einen auf glückliche Familie zu machen – er hat Weihnachten so gefeiert, wie er wollte, wie es ihm Spaß macht. Mit mehreren Freunden, die ebenso sehr auf ein beschauliches Weihnachtsfest verzichten konnten wie er. Sie haben sich einen feuchtfröhlichen Abend gemacht und beides, sowohl das „feucht“ als auch das „fröhlich“, hängt nun nach.

Kevin lässt sich auf seine Couch fallen, die Beine so weit ausgestreckt, dass er sich beinahe am Couchtisch stößt. Diese Freiheit… Göttlich.

Trotzdem wird er morgen seine Freundin anrufen. Sie sollte sich wieder beruhigt haben und Kevin ebenfalls. Ja, sie kann wieder zurückkommen, das passt schon. Also, wenn sie sich beruhigt hat. Als hysterische Kuh kann er sie hier nicht brauchen.

Er wird aus seinen Gedanken gerissen, weil er etwas spürt. Jemand tippt ihm an die Schulter.

Ha, ha. Sehr lustig. Er hätte doch eine Liste machen sollen mit all seinen Gästen, um sie am Ende der Feier abzuhaken und so zu sehen, ob alle draußen sind. Zugegebenermaßen hat er bei den Verabschiedungen den Überblick verloren – er weiß nicht genau, wer wann und mit wem gegangen ist, da ist es kein Wunder, dass er offensichtlich jemanden übersehen hat.

Kevin dreht sich um, will den Witzbold, der hinter der Couch lungert und ihn einfach so anstupst, anschnauzen. Doch hinter der Couch ist niemand.

Erst auf dem zweiten Blick fällt es ihm auf. Auf seiner Schulter liegt eine Hand. Nur eine Hand. Kein Arm dazu, kein Körper, nichts. Ein Stück des Handgelenks und eben eine Hand, mit Fingern und allem, was so dazu gehört.

Er zuckt zusammen – er meint zu sehen, wie sich die Finger der Hand verkrampfen und sie sich so an seiner Schulter festhält.

Scheiße, was ist das? Ist das ein kranker Witz von einem seiner Freunde? Ralle hat einen verdammt eigenartigen Humor, da kann das schon gut sein. Andererseits würde Ralle nicht so weit gehen. Er könnte vermutlich nicht einmal so weit gehen und eine so gut steuerbare Hand in seine Wohnung schmuggeln. Wo sollte er so etwas her bekommen?

Panisch starrt Kevin auf die Hand, beobachtet hilflos, wie sich der dünne Zeigefinger hebt und dann wieder auf seine Schulter senkt. Gleichzeitig bemerkt er das Tippen und irgendwie fühlt es sich fast schon surreal an, wie gut das, was er sieht, zu dem passt, was er fühlt, denn sein Gehirn ist so überfordert mit dem Bild, das sich ihm bietet, dass es dieses Bild erst einmal als „nicht wahr“ eingestuft hat.

Es ist wahr. Sonst würde er ja wohl nicht das Tippen spüren.

Von der Entspanntheit ist absolut nichts mehr übrig geblieben, Kevin sitzt stockstarr auf der Couch. Sein Nacken beginnt allmählich zu schmerzen, weil er den Kopf zur Seite gedreht hat und dabei etwas von der Hand weg bewegt, so weit wie möglich.

Was ist das? Sein Gehirn liefert keine Antwort, es ist absolut blank. Das kann er sich nicht erklären, dafür gibt es wirklich keine Erklärung.

Wieder hebt sich der Zeigefinger, wieder senkt er sich auf seine Schulter. Doch diesmal verharrt er dort, so weit hinten, dass Kevin den hellblauen Fingernagel nicht mehr sieht. Hellblau, woher weiß er das? Warum achtet er auf so etwas?

Ist aber auch egal, als der Finger Druck ausübt und sich in seine Schulter bohrt. Der Schmerz, der Kevins Körper durchzuckt, ist so präsent, ist so real, dass er Schweißausbrüche bekommt. Wie soll er sich wehren? Was will diese Hand von ihm?

Und als hätte sie das mitbekommen und als könnte sie Gedanken lesen, huscht ein Gedanke durch sein Gehirn. „Steh auf“. Der Finger, der noch fester zudrückt, unterstreicht diese Nachricht und selbst wenn er die Gedankenübertragung anzweifelt, muss er aufstehen, um dem Bohren zu entkommen – wenn etwas hilft, dann nur aufstehen.

Kevin wankt, als er auf die Beine kommt. Bevor er umfällt, schafft er es gerade noch, sich an dem niedrigen Couchtisch festzuhalten.

Doch die Hand bleibt, wo sie ist und nun meint Kevin auch noch, etwas auf seinen Rücken tropfen zu spüren.

„Blut, du Affe.“ – wieder ein Gedanke, der einfach so durch seinen Kopf schießt und Kevin reißt die Hände nach oben, um sie gegen die Schläfen zu pressen. Hilft nichts. Er meint, immer noch das höhnische Gelächter vernehmen zu können, das nur in seinem Kopf existiert.

„Was willst du von mir?“ Seine Stimme zittert ebenso sehr wie seine Beine. Er hat Angst, panische Angst – diese Hand, die dort an seiner Schulter hängt, gehört dort nicht hin, hat dort ganz klar nichts zu suchen und trotzdem bleibt sie dort und er hat nicht den Mut, sie wegzuschlagen.

Keine Antwort. Klar, wie denn auch? Die Hand hat schließlich keinen Mund.

Aber ganz so klar ist das dann doch nicht, sie hat ja auch keine Beine und hat es trotzdem geschafft, zu ihm zu gelangen. Wie sollte sie sich ohne Beine fortbewegen?

Zu seinem Leidwesen beantwortet seine Fantasie diese Frage umgehend. Vor seinem geistigen Auge taucht ein Bild davon auf, wie die Hand über den Boden krabbelt, wie eine sehr eigenartige Spinne. Und obwohl die Situation gerade echt übel ist, ist er ein bisschen erleichtert – dieser Anblick wäre noch schlimmer gewesen als das, was hier passiert.

Aber wer oder was steuert die Hand? Ein Gehirn hat sie ja auch nicht, sie kann einfach nicht alleine unterwegs sein. Ist das Karma?

„Ich… Ich bessere mich!“ Das Drücken lässt nicht nach, Kevin stolpert einen Schritt nach vorne. Die Worte stolpern ebenso aus seinem Mund. „Ich werde mich mit meiner Freundin versöhnen, das hatte ich sowieso vor. Ich weiß, dass ich sie nicht gut behandelt habe.“

Keine Veränderung. Der Druck bleibt und Kevin hat das Gefühl, dass ihm der Schweiß in Sturzbächen über das Gesicht läuft, doch als er sich über die Stirn wischt, stellt er fest, dass es sich in Grenzen hält.

„Ich sage ihr, dass alles in Ordnung ist, dann wird sie schon zurückkommen.“ Kurz hebt sich der Finger, Kevin atmet gut hörbar auf. Aber die Erleichterung hält nur ein paar Sekunden, dann legt sich der Finger auf eine Stelle wenige Millimeter neben der vorherigen und übt wieder Druck aus.

Intuitiv macht er einen weiteren Schritt nach vorne, stößt sich dabei fast das Knie am Couchtisch.

„Ich fahre zu ihren Eltern, dann wird sie mir verzeihen. Wird zwar echt nervig, aber um sie zurückzubekommen… Immerhin musste ich Heiligabend nicht dort sein. Und wenn du das so willst…“ Seine Stimme klingt immer weinerlicher, stellt er fest. Und das Gefühl in seiner Brust, in seinem Hals… Er fühlt sich elend.

Verdammt, er ist ein schlechter Mensch und das vor allem der Person gegenüber, die ihn liebt, aus freien Stücken, nicht, weil sie mit ihm verwandt ist. Wenn man es genau nimmt, war er nie wirklich freundlich zu ihr, wurde im Laufe der Zeit immer herablassender und hat sich über ihre Beziehung gestellt. Trotzdem hat sie ihn bis vor kurzem nicht verlassen, hat ihn immer geliebt.

Diese Gedanken und der fortwährende Druck treiben ihn zu einer weiteren Einsicht.

„Okay, ich werde auch nicht so tun, als wäre sie schuld. Ich werde ihr nicht den Vorwurf machen, dass ich sie nicht betrogen hätte, wenn sie mich nicht ständig abgewiesen hätte.“

Genau das hatte er bis gerade eben vor. Das hat er sich vorher schon überlegt, als ihm klar wurde, dass er sie gerne zurückholen würde, wenn die nervige Weihnachtszeit vorbei ist und auch als ihm die Hand deutlich gemacht hat, dass er sich mit ihr versöhnen muss, waren das seine Gedanken. Denn verdammt, er fühlt sich unschuldig. Was sollte er schon tun in seiner Situation?

Doch allmählich wird ihm klar, dass er damit in sein altes, ungutes Muster verfällt. Ihr wehtun und ihr die Schuld dafür geben… Das kann er nicht tun.

Und dass es eine Hand, eine abgetrennte Hand ohne Körper, gebraucht hat, damit er das erkennt, ist echt erbärmlich. Das bittere Gefühl wird noch stärker. Doch ungeachtet dessen presst sich der Finger weiterhin gegen seine Schulter.

„Ich werde auch der Affäre sagen, dass Schluss ist. Ich habe sie ja jetzt schon ein paar Tage lang nicht mehr gesehen, ich brauche sie nicht. Aber meine Freundin brauche ich. Ich liebe sie doch. Und ich muss netter zu ihr sein, ich weiß.“

Immer noch keine Gnade. Er schafft es einfach nicht, es der Hand recht zu machen und allmählich verzweifelt er daran. Was? Was ist es noch? Was hat er noch falsch gemacht, worauf möchte sie ihn noch hinweisen?

„Was soll ich tun?“

Das konsequente Drücken der Hand lenkt ihn Richtung Fernseher, Kevin bahnt sich seinen Weg durch die Flaschen- und Müllberge. Dann erblickt er das Telefon, das auf dem Fernseher steht.

„Soll ich sie anrufen?“ Der Finger drückt weiter, schiebt ihn somit am Fernseher vorbei.

„Okay, also auch nicht…“

Seine – immer noch ziemlich wackeligen – Schritte führen ihn bis zum Fenster, dort hält die Hand inne.

Kevin zieht den Vorhang zur Seite, er blickt hinaus. Nichts zu sehen, zumindest nichts Ungewöhnliches. Der Ausblick ist der gleiche wie gestern, vorgestern – vielleicht nicht wie immer, in den Fenstern auf der anderen Straßenseite hängen Lichterketten.

Dann hört er es wieder. Ganz leise, ganz tief in seinem Kopf eine Stimme. Sie ist sanft, sie klingt so, als würde der Wind sie wegwehen.

„Hinaus.“

Endlich. Endlich eine Anweisung. Kevins Hand schnellt nach vorne, er öffnet sofort das Fenster. Der Luftzug, der ihm um die Ohren bläst, ist frisch, aber es fühlt sich gut an. Befreiend, irgendwie, so wie die Anweisung gerade eben. Endlich weiß er, was er tun soll, endlich!

Der Finger stupst ihn wieder, das Stupsen wird energischer, als er auf die Fensterbank klettert. Es hört selbst dann nicht auf, als er sich fallen lässt.

Am 3. Advent erwartet dich die nächste Geschichte: düster, verstörend – und näher, als du denkst.
Bist du bereit, wenn der Schatten erneut fällt?

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1. Advent: Der Weihnachtsbesuch

Stille Nacht, blutige Hand

Manchmal sind die stillsten Momente die unheimlichsten. Ein Weihnachtsabend, gefüllt mit Plätzchen, Lachen und Geschenken – und doch liegt etwas in der Luft, das niemand auszusprechen wagt. Eine Hand. Kein Spielzeug, kein Scherz. Eine echte Hand, blutverschmiert und doch seltsam zurückhaltend, als hätte sie ihren Platz unter dem festlich geschmückten Baum schon lange eingenommen. Antonia sieht sie – aber niemand sonst. Was verbirgt sich hinter diesem makabren Geschenk? Und was, wenn manche Dinge nicht nur im Schatten lauern, sondern auch mitten im Licht?

Eine Hand. Das ist so ziemlich das makaberste Weihnachtsgeschenk, das Antonia je gesehen hat. Für Halloween wäre das ja noch eine passende Idee, immer noch ziemlich eklig, aber wenigstens passend zum Fest. Doch an Weihnachten… Da schenkt man sich doch schöne Sachen, oder nicht?

Antonia ist schlecht. Onkel Steffen würde sagen, dass sie vorher einfach zu viele Plätzchen genascht hat – das ganze Haus ist voller Plätzchen, überall stehen gut gefüllte Dosen herum, weil traditionell jeder seine Plätzchenreste zur gemeinsamen Weihnachtsfeier mitnimmt. „Die müssen ja gegessen werden“ – und Antonia will sich echt nicht über diesen Brauch beschweren, denn sie schlägt da tatsächlich sehr gerne zu.

Heute nicht. Zumindest nicht übermäßig. Sie kennt ihre Grenzen, sie weiß mittlerweile, wie viel Gebäck sie wirklich verträgt. Außerdem ist das einfach ein anderes Gefühl, irgendwie. Ja, es könnte am vielen Essen, gemischt mit den Plätzchen, liegen. Es könnte aber auch an der Hand liegen.

Wie hypnotisiert starrt sie auf die Hand, beobachtet, wie sich am Rand vom Handgelenk, wo die Hand vom restlichen Körper abgetrennt wurde und man Fleisch und Knochen sieht, stetig Bluttropfen sammeln, die ebenso stetig auf den Boden perlen und dort sofort im Vorleger versickern.

Irgendjemand hat es geschafft, auf dem Deckchen unter dem Weihnachtsbaum einen Platz für die Hand zu finden. Zwischen all den schön verpackten Schachteln und unförmigeren Geschenken hat sich eine Lücke für dieses widerliche „Geschenk“ gefunden.

Warum reagiert keiner?

Normalerweise ist Antonia nicht die Penibelste hier. Als einer der Jungs letztes Jahr der Meinung war, für seinen Kumpel eine Handvoll Matsch einzupacken und unter den Baum zu legen, wurden die beiden Knirpse aus dem Wohnzimmer geschickt und der Putztrupp rückte aus, um das bisschen Schlamm, das aus dem Karton getropft ist, wegzuwischen. Und das war nur Schlamm – nicht gerade schön, aber nicht ansatzweise so eklig wie eine blutige Hand.

Warum tun sie dann nichts?

Tante Stellas Zwerge Pascal und Jessica beenden ihr Flötenkonzert, die versammelte Verwandtschaft klatscht begeistert. Auch Antonia, die zugegebenermaßen nicht mehr viel von dem Auftritt mitbekommen hat, seit sie die Hand entdeckt hat, klatscht.

Dann scheucht Tante Stella ihre Kinder zurück auf die Decke vor den Couchen, auf der sich die ganzen kleineren Kinder häuslich eingerichtet haben. Sie selbst zückt einen Fotoapparat. Den bekam sie vor genau fünf Jahren an dieser Stelle, inklusive einer Anfänger-Fotoausrüstung. Seitdem knipst sie alles, was ihr vor die Linse kommt.

Heute ist es der Baum. Sie springt um den Baum herum, streckt sich, geht in die Hocke, ständig knipst ihre Kamera. Das Mosern der Kinder, die endlich die Geschenke auspacken wollen, ignoriert sie, sie konzentriert sich lächelnd auf ihre Bilder.

Und obwohl sie sonst immer sehr auf Ästhetik achtet – sie hat sogar in ihrer Fototasche mehrere Werkzeuge dafür, unter anderem einen Knipser, mit dem sie störende Zweige oder Ähnliches entfernen kann –, stört sie sich nicht an der Hand. Sie macht mehrere Fotos von der Frontseite des Baumes, sogar so, dass die Geschenke zu sehen sind, das erkennt Antonia im Display des Fotoapparates.

Doch es kommt keine Reaktion auf die Hand. Tante Stella ist nicht entsetzt, nicht angewidert, sie verzieht noch nicht einmal das Gesicht. Auch die Fotorunde nimmt ihr Ende. Nach einem letzten kritischen Blick aufs Display ihres Fotoapparates, der von einem zufriedenen Lächeln gefolgt wird, räumt sie ihre Ausrüstung wieder in ihre Tasche – und das ist das inoffizielle Zeichen dafür, dass die Bescherung beginnen kann.

Als hätte es einen Startschuss gegeben, rennen die Kinder zu den unter dem Baum liegenden Geschenken. Sie rempeln sich zur Seite, jeder versucht, der Schnellste zu sein und nebenbei das größte Geschenk zu ergattern. Nur blöd, dass auf jedem Geschenk ein Name steht…

Antonia grinst leicht, doch dann fällt ihr Blick mal wieder auf die Hand und ihr Magen zieht sich kurz, aber schmerzhaft, zusammen.

Sie ist echt froh, dass sie nicht mehr in dem Alter ist, in dem man von ihr erwartet, dass sie kreischend und lachend um den Baum rennt. Lieber bleibt sie hier sitzen und kämpft weiter gegen die Übelkeit an. Wenn sie einfach nicht hinsieht… Sie muss die Hand ignorieren, so wie es der Rest der Familie auch macht. Alle hier haben Spaß, sind fröhlich, sind glücklich – trotz Hand unter dem Baum.

Das bekommt sie doch auch hin, oder? Sie muss.

Die Kinder haben ihre Wettkämpfe beendet. Es gibt scheinbar einen Sieger des Rennens, jeder hat sich eines der Geschenke genommen und nun werden sie verteilt. Die kleineren Kinder lassen sich von ihren Eltern vorlesen, wer das jeweilige Paket bekommen soll, die größeren übergeben sie eigenständig.

Die kleine, schwarzhaarige Jessica, die sich eben noch mit ihrer Blockflöte abgemüht hat, tritt vor Antonia. Sie hält ein kleines, unförmiges Päckchen, das sie nun Antonia überreicht. Dann verschwindet sie wieder im Gewühl und holt das nächste Geschenk für einen anderen Verwandten.

So ist doch alles gut. Einfach das Geschenk öffnen, dabei zusehen, wie ihre Geschenke geöffnet werden, Freude verbreiten, Freude erleben.

Antonia reißt das dunkelblaue Geschenkpapier auf, darunter kommt ein Paar ebenfalls dunkelblauer Handschuhe zum Vorschein. Sie sehen weich aus und warm und Antonia ist ganz überrascht, dass sich tatsächlich jemand diesen kleinen Wunsch gemerkt hat. Sie nimmt die Handschuhe aus der Verpackung, mustert sie kurz, dann schlüpft sie hinein.

Der erste passt ganz gut, der zweite…

Der zweite Handschuh ist innen ganz feucht. Der Stoff hat sich damit vollgesogen – allerdings von innen, denn außen hat sie nichts gemerkt. Merkt sie auch jetzt nicht, als sie mit der anderen Hand darüber tastet.

Irgendetwas muss im Inneren ausgelaufen sein, nicht viel, aber ausreichend, um die innere Stoffschicht zu durchtränken.

Blut.

Intuitiv weiß Antonia, dass es Blut ist, so wie die dunkelroten Tropfen, die vom Handgelenk auf das Deckchen tropften. Sofort reißt sie sich den Handschuh von der Hand. Am liebsten würde sie ihn ins Feuer werfen oder beim Fenster heraus, doch sie beherrscht sich gerade noch so und hält mit zitternden Händen den Handschuh fest.

Man spürt so wirklich nichts… Antonia zittert am ganzen Leib, ihr Atem geht unregelmäßig und sie spürt, wie ihr Herz gegen die Rippen pocht.

Okay, sie muss sich beruhigen. Darf sich nichts anmerken lassen, muss ganz entspannt und fröhlich bleiben. Das ist doch – Alles nur Einbildung?

Die Kinder laufen immer wieder an der Hand vorbei, greifen zielsicher nach den Päckchen, die direkt neben ihr liegen, doch keiner reagiert auf die Hand. Keiner schreit, keiner fragt seinen Papa, was die Hand da tut, keiner hebt sie auf.

Ihre Hand ist trocken. Gerade eben noch hat sie das Blut, die Feuchtigkeit, die Klammheit des Stoffes gespürt und jetzt ist ihre Hand so trocken, als wäre das nie passiert. Es ist auch nichts zu sehen, keine roten Tropfen auf ihrer Hand, keine roten Streifen vom Blut.

Die Bescherung nimmt ihren Lauf. Jeder bekommt seine Geschenke, die Stimmung ist gut, ständig wird gelacht und allmählich entspannt sich auch Antonia etwas.

Wenn sie einfach nicht zur Hand sieht… Ihre weiteren Geschenke sind alle ganz normal, keine Spur von einer mysteriösen Hand.

Dann neigt sich der Abend dem Ende entgegen und das Wohnzimmer leert sich. Antonia bleibt sitzen, sie braucht noch eine kleine Auszeit, beschließt sie. Um sie herum toben noch ein paar Kinder mit ihren Geschenken.

Plötzlich hat Antonia eine Idee. Sie stoppt eines der Mädchen, bedeutet ihr, zu ihr zu kommen.

„Siehst du die Hand da drüben?“

Das kleine Mädchen dreht sich um, mustert die Decke unter dem Weihnachtsbaum, die nun leer ist – abgesehen von der Hand. Sie liegt immer noch an der gleichen Stelle, das Blut, das auf die Decke tropfte, ist inzwischen getrocknet.

Als die Kleine sich wieder Antonia zuwendet, ist ihr Blick wütend.

„Das ist nicht lustig.“

Mit diesen Worten verschwindet sie und das letzte verbleibende Kind im Raum, ihr Bruder, folgt ihr.

Sie hat sie nicht gesehen.

Sie dachte, Antonia will sie auf den Arm nehmen.

Die Hand existiert nicht. So real sie auch aussehen mag – sie ist es nicht. Trotzdem fühlt sich Antonia nicht richtig erleichtert. Klar, wenn niemand außer ihr die Hand sieht, muss es eine Einbildung sein. Eine ziemlich lebhafte, okay, aber eben nur eine Einbildung.

Da ist keine Hand.

Aber Angst hat sie trotzdem und sie muss einfach die ganze Zeit an die Hand denken – sie hat es ja noch nicht einmal geschafft, für länger als ein paar Minuten wegzusehen.

Gut, es gibt eine Sache, die sie tun kann, um sich zu beruhigen. Sie muss einfach nur die Hand anfassen – beziehungsweise es versuchen und dann feststellen, dass es nicht geht, weil dort, wo sich die Finger abzeichnen, nur Luft ist. Dann kann sie endlich ruhig schlafen.

Doch davor braucht sie diese Gewissheit.

Endlich steht Antonia auf. Sie geht hinüber zum Weihnachtsbaum und geht daneben in die Hocke, direkt vor der Hand.

Aber was ist, wenn sie eben doch da ist? Sie sieht einfach so echt aus – Antonia sieht das Blut am Handgelenk schimmern, sieht den hellblauen Nagellack auf den Fingernägeln, der teilweise schon abgesprungen ist. Es ist eine zierliche kleine Frauenhand, an der Seite etwas aufgesprungen, aber ansonsten sehr gut gepflegt. Wahrscheinlich kommen die Risse von der Kälte, das Problem hat Antonia ja auch.

Nein. Sie kann nicht da sein.

Niemand hat sie gesehen – und wie soll etwas so existieren, dass es nur ein einziger Mensch sieht?

Antonia nimmt ihren ganzen Mut zusammen und stupst die Hand an.

Und wider Erwarten gleitet ihr Finger nicht durch Luft – er stößt auf Widerstand, er berührt etwas.

Kalte, trockene Haut…

Ihr Herz setzt einen Schlag aus, ihr wird noch sehr viel übler als zuvor.

Dann dreht sich die Hand um und packt zu.

Antonias Schrei bleibt in ihrer Kehle stecken…………

Am zweiten Advent öffnet sich die Tür zu einem düsteren Geheimnis, das sich still und unbemerkt unter dem Weihnachtsbaum verbirgt – wage es, hinzusehen.

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Fahrt ins Vergessen

Alles beginnt wie immer – nur etwas später. Ein müder Feierabend, ein fast leerer Zug, das leise Rattern der Räder. Doch irgendwo zwischen Schlaf und Wirklichkeit, zwischen einer Haltestelle und der nächsten, verändert sich etwas. Es ist kaum wahrnehmbar, ein kaum spürbarer Riss im Gewohnten. Doch wer genau hinsieht – oder vielleicht einschläft – der landet womöglich an einem Ort, den es eigentlich nicht geben dürfte …

Wie nach jedem Arbeitstag sitze ich im Zug, der mich nach Hause bringt. Seit Jahren fahre ich diese Strecke. Morgens vierzig Minuten in die Stadt, abends vierzig Minuten zurück. Die Fahrt ist meistens echt angenehm und entspannend – auf meiner Strecke kommt es eher selten zu Problemen. Während der kurzen Reise lese ich gerne oder hänge meinen Gedanken nach. Manchmal nicke ich während der Fahrt ein. Kurz darauf fahre ich dann erschrocken hoch, weil ich befürchte, meine Station verschlafen zu haben. Das ist jedoch noch nie passiert.

Besonders abends auf der Heimfahrt, wenn es dämmert oder gar schon dunkel ist, passiert es, dass mir die Augen zufallen und ich in einen kurzen Schlaf falle. Jede Anstrengung, wach zu bleiben, ist zwecklos. Meine Gedanken verschwimmen und noch ehe ich es merke, bin ich eingeschlafen. Manchmal gleite ich wie auf Wolken in einen Dämmerschlaf, der so leicht ist, dass ich alles, was um mich herum passiert, noch mitbekomme.

Heute hatten wir Stromausfall in der Firma, für die ich arbeite. Fast zwei Stunden waren wir zum Nichtstun verdammt. Ohne Strom und Internet funktioniert nichts mehr. Da aber einige Arbeiten eilig waren und unbedingt noch heute fertig gemacht werden mussten, war an einen pünktlichen Feierabend nicht zu denken. So kommt es, dass ich heute fast eineinhalb Stunden und vier Züge später im Zug sitze.

Das Abteil ist nur spärlich besetzt und so hatte ich keine Probleme, einen Platz am Fenster zu ergattern. Während die Sitzplätze zu meiner üblichen Fahrzeit meist nicht für alle Fahrgäste ausreichen und einige Leute stehen müssen, sind heute nur zehn oder zwölf andere Passagiere mit mir in meinem Abteil. Es gibt nichts Schlechtes, dem man nicht auch eine gute Seite abgewinnen kann, denke ich und grinse vor mich hin.

Die Türen schließen sich und der Zug rollt los. Raus aus dem Bahnhof und langsam auch aus der Stadt. Es dämmert bereits und die Autos auf den Straßen fahren mit Licht. Heute war ein langer, anstrengender Arbeitstag und ich spüre, wie ich erst jetzt zur Ruhe komme. Das gleichmäßige Rollen und Rattern des Zuges beruhigt mich. Müdigkeit kündigt sich an, ich werde schläfrig. Aber ich will nicht schlafen und kämpfe mit aller Macht gegen die aufsteigende Müdigkeit an.

Eine Durchsage kündigt die nächste Haltestelle an. Einige Fahrgäste machen sich zum Aussteigen bereit und sammeln sich vor den Türen. Die Haltestelle kommt in Sicht und schon rollt der Zug ganz behutsam an den Bahnsteig, bis er ganz zum Stehen kommt. Die Türen öffnen sich und Leute steigen aus, niemand steigt zu. Die Türen schließen sich wieder und die Fahrt geht weiter.

Für mich sind es noch vier Stationen, bis auch ich mein Ziel erreicht habe. Im Moment bin ich echt zufrieden mit dem Tag und der Welt und fühle mich wohl. Ich bin zwar erschöpft, aber auch froh darüber, meine Arbeit trotz der Umstände noch geschafft zu haben. Meine Augenlider werden schwer und dieses Mal verliere ich den Kampf gegen die Müdigkeit. Mein Kopf liegt an der Fensterscheibe und ich dämmere weg. Ich schlafe tief, fest und traumlos.

Mit einem Ruck schrecke ich auf. Draußen ist es dunkle Nacht. Im Abteil ist Dämmerlicht und der Zug rattert durch die Nacht. Ich stehe auf und sehe mich im Abteil um. Außer mir ist niemand mehr da, alle anderen sind wohl schon ausgestiegen. Ich bin alleine. In meiner Tasche suche ich mein Handy. Ich versuche, es anzuschalten, doch der Akku ist leer. Erschrocken und ängstlich überlege ich, was ich tun kann.

Ich schaue angestrengt aus dem Fenster und versuche etwas zu erkennen. Etwas, das mir verrät, wo ich sein könnte. Ich sehe keine Stadt, noch nicht einmal ein Haus. Nur an mir vorüberziehende Bäume. Das bringt mich nicht weiter. Also laufe ich auf die andere Seite des Zuges, um dort aus dem Fenster sehen. Mit den Händen schirme ich meine Augen ab, ich suche konzentriert nach Anhaltspunkten. Aber auch auf dieser Seite des Zuges sehe ich nichts anderes.

Plötzlich bemerke ich, dass der Zug an Geschwindigkeit verliert. Ich stürze zu meinem Platz und schaue aus dem Fenster nach draußen. In der Ferne kann ich ein fahles Licht erkennen.

Beim Näherkommen versuche ich zu erspähen, was dort vorne ist. In der Ferne meine ich eine Haltestelle zu erkennen. Meine Anspannung lässt nach, als ich sicher bin, dort vorne eine Haltestelle zu sehen. Fast muss ich über meine Furcht lachen.

Der Zug ist merklich langsamer geworden und nähert sich der Station. Schnell greife ich nach meiner Jacke und der Tasche und wanke zur Tür. Ungeduldig spähe ich nach draußen, während der Zug in der Station einrollt. Der Zug kommt zum Stehen und mir fällt ein Stein vom Herzen. Das ist eine Geschichte, die ich noch meinen Enkeln erzählen kann, schmunzle ich vor mich hin.

Dann hält der Zug an und die Tür geht auf. Ich mache einen Schritt auf den Bahnsteig und schaue mich um. Ein Ortschild kann ich nicht erkennen, nur die große Bahnhofsuhr über mir. Es ist 20:10 Uhr, das heißt, ich habe mehr als zwei Stunden geschlafen. Ungläubig starre ich zur Uhr. Hinter mir schließt der Zug die Tür, fährt an und verschwindet in der Nacht.

Schräg vor mir, gegenüber der Gleise, sehe ich ein kleines Gebäude mit erleuchteten Fenstern. Vielleicht ist das eine Schalterhalle mit Imbiss, denke ich. Beim Näherkommen höre ich Stimmen durch die Türe. Ich trete ein und sofort umfängt mich der Duft von frischgebackenem Kuchen. Es könnte Apfelkuchen sein, denn ein Hauch von Zimt liegt in der Luft. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Ich sehe mich um. Ein eigenartiges Lokal ist das. Die Besitzer sind wohl Nostalgiker oder Retro-Fans. Das Lokal sieht aus wie aus längst vergangenen Zeiten. Das Mobiliar, wie man es aus Schwarz-Weiß-Filmen kennt. Es riecht auch etwas muffig, wie in einem Museum. Mein Geschmack wäre das nicht und wirklich wohl fühle ich mich hier nicht. Aber Geschmäcker sind bekanntlich unterschiedlich.

Der Mann hinter der Theke schaut zu mir und nickt nur kurz. Er trägt ein weißes Hemd, dazu eine schwarze Fliege. Seine Haare sind gegelt und straff nach hinten gekämmt. Sehr korrekt, sehr ordentlich. An der Theke sitzen zwei Männer im Gespräch. Beide mit Stoffhose, Sakko und Krawatte gekleidet. Beide tragen einen Hut. Alle drei passen perfekt in diese Kulisse.

Aber ich kümmere mich nicht weiter darum und gehe auf die Theke zu. Dabei sehe ich einen weiteren Gast, der an einem der Tische sitzt und in einer Zeitung liest. Die Zeitung ist in einen altmodischen Holzhalter gespannt. So ein Teil habe ich in alten Filmen gesehen, real habe ich so etwas noch nie gesehen. Ein wirklich witziges Lokal mit komischen Leuten ist das hier.

Ich spreche den Mann mit der Fliege an. Nach einer kurzen Begrüßung frage ich direkt, ob er mir sagen kann, wann der nächste Zug zurück in die Stadt fährt. Der Mann schaut mich an, als ob er mich nicht verstanden hat und antwortet dann nach einer Minute des Nachdenkens, dass hier kein Zug fährt.

Verblüfft erkläre ich, dass ich doch eben mit dem Zug hier angekommen bin und schnellstens wieder zurück müsse.

Der Mann schaut mich verständnislos an und wiederholt langsam:
„Hier ist kein Bahnhof, also kann hier auch kein Zug fahren.“

Er dreht sich um und beginnt, seine Gläser zu spülen. Ich finde das nicht witzig. Wollen mich die Leute hier mit ihrem Nostalgie-Klub auf den Arm nehmen oder was soll das Ganze hier? Ich bin müde und werde langsam wirklich wütend. Man wird doch wohl erwarten können, eine vernünftige Antwort auf eine einfache Frage zu bekommen.

Ich drehe mich um und marschiere in Richtung Türe. Nicht genug, dass ich in einer gottverlassenen Gegend gelandet bin, jetzt muss mich auch noch dieser Witzbold veralbern. Auf dem Bahnsteig werde ich schon einen Fahrplan finden und selbst herausfinden, wann der nächste Zug fährt.

Ich öffne die Türe und mache einen Schritt auf die Straße. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.

Wo ist der Bahnsteig? Ich drehe mich um, hinter mir die Türe, durch die ich vor wenigen Minuten in dieses eigenartige Lokal gegangen bin. Ich sehe weder Bahnsteig noch Gleise. Gegenüber nur zwei alte Häuser, dazwischen eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster.

Ganz sicher habe ich mich geirrt und bin bei einer anderen Türe in das Lokal gegangen. Ich wende mich nach rechts und gehe um die Ecke des Hauses. Ich sehe keinen Bahnsteig. Jetzt laufe ich schnell am Haus entlang zur nächsten Hausecke, spähe um die Ecke und sehe auch hier keine Gleise.

Nun renne ich zur nächsten Ecke. Als auch hier keine Gleise und kein Bahnsteig zu finden ist, renne ich weiter um die vierte Hausecke und sehe, dass ich wieder an der Vorderseite des Hauses bin.

Ich spüre, wie mein Blut zu kochen anfängt, gleichzeitig friere ich am ganzen Körper. Der Schweiß steht mir auf der Stirn. Panik breitet sich aus. Meine Beine sind weich wie Pudding. Und meine Gedanken rasen. Ich habe mit einem Mal rasende Kopfschmerzen.

Ich drehe mich um, öffne die Tür und trete wieder ein. Langsam schlurfe ich zum Tresen. Vorbei an dem Mann mit der Zeitung, der sich zu mir umdreht. Er schaut sehr überrascht, als er mich sieht, und legt seine Zeitung zurück auf den Tisch.

Ich greife nach der Zeitung und lese auf der ersten Seite das Datum. Es ist der 12. April 1952.

Fast falle ich die wenigen Schritte zum Tresen, um mich gerade noch daran festzukrallen. Der Mann mit der Fliege sieht mich und kommt sofort auf mich zu. Er packt mich am Arm und spricht mich an.

„Was ist passiert? Sie sehen ja schrecklich aus!“

Der Mann führt mich zu einem Tisch und erklärt, dass er gleich wieder da ist und mir Kaffee und ein ordentliches Stück frischen, selbstgebackenen Kuchen bringen will. Sicher wird es mir dann auch gleich besser gehen.

Schlaff sitze ich, unfähig mich zu bewegen. Meine Gedanken überschlagen sich, aber ich habe keinen Plan.

Der Mann kommt zurück und stellt eine Tasse vor mir auf den Tisch. Dazu einen Teller mit einem großen Stück gedecktem Apfelkuchen. Der Kuchen duftet wunderbar nach Äpfeln und Zimt.

Mit der Gabel steche ich ein Stück Kuchen ab und schiebe mir die Gabel in den Mund. Der Kuchen ist noch warm und schmilzt in meinem Mund. Die Äpfel, der Zimt und der süße Teig – wunderbar. Nie habe ich einen besseren Kuchen gegessen.

Es gibt nichts Schlechtes, dem man nicht auch eine gute Seite abgewinnen kann, denke ich und genieße meinen Kuchen. Sicher gibt es hier auch ein Zimmer für mich mit einem bequemen Bett.

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Zwischen Schatten und Licht

Ein falscher Schritt, ein betrunkenes Argument, ein Hauch von Halloween – und plötzlich ist alles anders. Chimi wollte eigentlich nur diskutieren, ein bisschen laufen, vielleicht ein Taxi rufen. Doch die Nacht hat andere Pläne mit ihm. Es beginnt mit einem Griff an den Po und endet in einem Stripclub – dazwischen: verlorenes Vertrauen, gefundene Freundlichkeit, ein Lächeln, das mehr verrät als Worte. Und irgendwo in dieser Nacht – vielleicht sogar in einem gestohlenen Geldbeutel – steckt etwas, das sich wie Schicksal anfühlt.

„So. Fertig.“
Chimi drückt ganz schwungvoll auf den Senden-Pfeil in seinem Handy. So schwungvoll, dass er gegen die Wand prallt. Aber das ist nicht wild, er schwankt schon die ganze Zeit beim Laufen hin und her und hat dementsprechend schon öfter mit der Wand Bekanntschaft gemacht. Ist eine gute Wand, hat ihm immer Rückhalt gegeben. Oder Seithalt oder so.

Und Rückhalt, den braucht er. Nicht nur, weil er sich beim Schreiben nicht darauf konzentrieren konnte, geradeaus zu laufen – er führt hier eine extrem wichtige Diskussion und außer der Wand steht niemand hinter ihm. Oder neben ihm. Auch nicht im bildlichen Sinne.

Die Diskussion ist nun beendet. Er ist zu Hochformen aufgelaufen und hat gerade das Totschlagargument geliefert. Vielleicht sollte er, wenn er schon so in Form ist, sich selbst eine Nachricht schreiben, warum diese Diskussion wichtig war… Chimi weiß genau, dass sein nüchternes Ich von morgen Früh wieder von seinem betrunkenen Ich – also sein aktuelles Ich – genervt sein wird. Wenn er betrunken ist, diskutiert er nämlich verdammt gerne – viel zu gerne, wenn es nach seinem nüchternen Empfinden geht.

Nein, die Nachricht an sich selbst ist nicht nötig. Das ist eine unglaublich wichtige Diskussion, nicht so etwas wie… Was war gleich noch mal seine letzte Diskussion? Dürfte die mit den Delfinen gewesen sein – ob Delfine nun gut oder böse sind. Aber diese Diskussion gerade eben war schon wichtig.

Seine Freunde, mit denen er bis vorher auf der Halloweenfeier war, haben ihm nämlich den ganzen Abend vorgeworfen, dass er die Verkleidungsaufforderung nicht ernst genommen hat. Nicht ernst genommen, ha. Nur weil Chimi nicht stundenlang Kostüme genäht und Schminke aufgetragen hat, so wie alle anderen in dem Laden, in dem die Feier stattgefunden hat.

Und weil sie ihn nicht ausreden ließen und es ihm eh egal war, weil er in den Laden gekommen ist und das das einzig Wichtige an seinem Kostüm war, musste er jetzt die Diskussion abschließen. Jetzt, wo er betrunken genug dafür ist und auf dem Weg durch die Stadt eh genügend Zeit hat.

Nur weil er sich als Frankenstein verkleidet hat… Dass alle, die sich als sein Monster verkleiden, nicht so originalgetreu sind wie Chimi, steht doch fest. Und dass er es sich zu leicht gemacht hat, lässt er auch nicht gelten. Frankenstein ist eine Horrorfigur und jeder, der gebildet ist, weiß, dass nicht das Monster, sondern Frankenstein himself das wahre Monster war.

Aber jetzt ist das geklärt und Chimi kann beflügelt weiterlaufen. Wo er entlang läuft, ist nebensächlich. Er hat das Bedürfnis zu laufen und wenn dieses Bedürfnis abgeklungen ist, ruft er sich einfach ein Taxi und fährt nach Hause.

Eine Hand reißt ihn aus seinen Gedanken, aus seiner Trance, und befördert ihn wieder in die Straße, durch die er gerade läuft. Diese Hand legt sich nämlich auf seinen Po und als Chimi zur Seite sieht, erblickt er den dazugehörigen Mann. Scheinbar auch ein Halloween-Partygänger und zwar einer, der sich bei seiner Kostümierung doch etwas mehr Mühe gegeben hat als Chimi, der sich für ein ganz normales Outfit, bestehend aus Jeans und T-Shirt, entschieden hat.

Der andere Mann ist nämlich komplett schwarz angezogen und hat die Kapuze seines Pullis so über den Kopf gezogen, dass sein Gesicht in einem Schatten liegt. Nur sein Mund ist sichtbar – dünne Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen haben und ganz weiße, gerade Zähne offenbaren. Trotzdem ist ziemlich eindeutig, dass er ein Mann ist. Schon seine Statur spricht dafür – er ist etwas größer und breiter als Chimi.

Chimi erwidert das Lächeln, dann beschleunigt er seine Schritte, so dass die Hand des Fremden wieder von seinem Po rutscht.
„Kein Interesse, sorry.“

Sofort holt der andere wieder auf. Doch seine Hand lässt er diesmal bei sich.
„Schade.“

Seine Stimme ist knurrig, knarzig – er klingt, als würde er täglich mehrere Packungen Zigaretten rauchen. Und das ist dann auch erst einmal der letzte Eindruck, den Chimi von dem Fremden hat. Er läuft los und lässt Chimi hinter sich liegen.

Chimi sieht ihm hinterher, sieht ihm dabei zu, wie er ein paar Häuser weiter einen Club betritt. Sofort sieht Chimi nach oben, um die Leuchtreklame über dem Eingang zu mustern. Ah, ein Stripclub. Mit dem bezaubernden Untertitel „Von Männern für Männer“. Das erklärt dann auch den Annäherungsversuch – er ist im Schwulenviertel gelandet.

Jetzt sollte er aber wirklich schauen, dass er nach Hause kommt. Wenn er wirklich im Schwulenviertel ist, ist seine Wohnung ein gutes Stück entfernt und auch wenn er noch Bock auf Laufen hat, sollte er doch mal seine Schritte in die richtige Richtung lenken.

Okay. Laufen. Zielgerichtet laufen.
Chimi schiebt also sein Handy in die Potasche seiner Jeans. Nicht in die linke, da ist sein – Halt. Da sollte sein Geldbeutel sein, aber er spürt nichts. Auch nicht, als er die betreffende Hosentasche abtastet. Nichts. Da ist nichts.

Aber er hatte seinen Geldbeutel vorher noch, da ist er sich ganz sicher. Er überprüft immer seine Taschen, wenn er einen Club verlässt – da kann er noch so betrunken sein, das ist inzwischen Routine. Es gibt nur eine Möglichkeit, wohin der Geldbeutel verschwunden ist. Nämlich in die Hand, die ihn vorher getätschelt hat. Der Kerl wollte ihm gar nicht an die Wäsche – er wollte nur sein Geld.

Chimi braucht nur wenige Sekunden, um den daraus resultierenden Entschluss zu treffen. Er rennt los, rennt zu dem Club, in den der Dieb gerade verschwunden ist.

Scheinbar hat sie Ramóns Erklärung so interpretiert, dass Chimi ihren mütterlichen Schutz braucht. Die erste Teigtasche war richtig lecker, also nimmt Chimi dankend an.

„Weil er gut zahlt. Nur deswegen können wir uns dieses Haus leisten.“ Erst jetzt wird Chimi bewusst, wo er hier gelandet ist. Müsste eine ärmere Gegend sein – alles hier ist etwas spärlich, auch wenn man sieht, dass sich die Bewohner Mühe gegeben haben, ihr Domizil schön herzurichten.

Deshalb arbeitet Ramón also als Tänzer: Um seiner Familie ein Zuhause zu finanzieren.

„Aber der arme Junge… Kannst du nicht mit El Diablo reden?“
Chimi will abwinken, will sie davon abbringen. Für ihn ist der Inhalt seines Geldbeutels überschaubar – es hätte halt Umstände gemacht, all die Karten und Ausweise neu ausstellen zu lassen, doch das Bargeld, das er dabei hatte, ist für ihn eine Kleinigkeit.

Für Ramón, der in wesentlich ärmeren Verhältnissen lebt, geht es jedoch um mehr. Wenn er es sich mit seinem Chef verscherzt, verliert er vielleicht seinen Job und damit auch das Geld für das Haus seiner Familie.

Doch er muss nichts sagen. Ramón kommt ihm zuvor.
„Mamá, ist schon okay.“
Kurz sehen sich die beiden böse an, doch das Blickduell gewinnt offensichtlich keiner von ihnen.

Um die etwas angespannte Stimmung zu lockern, beschließt Chimi, sich nun auch mal ins Gespräch einzuschalten.
„Die Empanadas ist wirklich sehr gut.“

Es hilft. Sofort strahlt ihn Ramóns Mutter an.
„Ramón isst gerne so etwas zum Frühstück. Wenn er wieder die ganze Nacht gearbeitet hat, braucht er am nächsten Morgen etwas Deftiges.“
„Kann ich verstehen.“

Dass er das verstehen kann, weil es ihm nach einer durchgefeierten Nacht auch so geht, sagt er lieber nicht. Im Moment fühlt er sich dafür echt schäbig.

Für Ramóns Mutter ist die Antwort dagegen völlig ausreichend. Ihr Strahlen wird noch breiter.
„Ramón ist ein guter Junge.“

Nun grinst sie ihn vielsagend an. Irritiert sieht Chimi zu Ramón hinüber, doch der verdrückt ganz unbeeindruckt den letzten Bissen seiner Teigtasche – Empanadas also. Mehr kommt dann auch nicht mehr von seiner Mutter. Immer noch lächelnd steht sie auf und räumt die leeren Schüsseln beiseite.

Als sie beide fertig gegessen haben, steht Ramón auf und bedeutet Chimi, ihm zu folgen.
Sie kehren in Ramóns Zimmer zurück, das Chimi nun mit ganz anderen Augen sieht. Das, was für ihn eine winzige Unterkunft war, ist für Ramón ein Luxus, den er sich nur leisten kann, weil er sich Nacht für Nacht von fremden Männern begaffen lässt…

Lange kann er darüber jedoch nicht nachdenken. Ramón holt etwas aus einer Schublade, dann stellt er sich vor Chimi und drückt es ihm in die Hand.
Es ist… Sein Geldbeutel.

Wirklich sein Geldbeutel, stellt Chimi fest, als er ihn aufklappt und seine Ausweise darin findet. Alles ist da – sein Führerschein, sein Ausweis, seine Kreditkarten, sogar sein Bargeld.
Überrascht sieht er auf.
„Woher hast du…? Du kannst das doch nicht machen! Was sagt El Diablo dazu?“

Ramón zuckt mit den Schultern, sein Lächeln ist schief.
„Er klaut doch eh nur, weil es ihm Spaß macht. Die Sachen, die er klaut, wirft er einfach in unsere Umkleide, das ist dann so etwas wie Trinkgeld. Und diesmal habe ich mir halt den ganzen Geldbeutel genommen.“

Wieder geht Chimis Blick zu seinem zurückgewonnenen Geldbeutel. Ramón hat sich also nicht nur um ihn gekümmert, als er sich abgeschossen hat – er hat auch noch seinen Geldbeutel besorgt.
Er klappt den Geldbeutel erneut auf, will ein paar Geldscheine herauszunehmen, um sie Ramón zu geben. Doch dann legt sich Ramóns Hand auf seine.
„Nicht.“
„Aber du hast dich um mich gekümmert. Und du hattest Ausgaben. Du hast das Busticket für mich gezahlt, nehme ich an und –“

Kurz überlegt Chimi. Was war gestern Abend noch? Ach ja, sein übermäßiger Alkoholkonsum. Klang dann doch so, als wäre das nicht aufs Haus gegangen.
„Und meine Getränke und so weiter.“

Wieder schüttelt Ramón den Kopf.
„Habe ich aus deinem Geldbeutel bezahlt. Du schuldest mir nichts.“
„Aber dafür, dass ich hier übernachten durfte und ein Frühstück bekommen habe…“
„Ist schon okay.“

Nun versteht Chimi auch, warum Ramón vorher seiner Mutter gegenüber so entspannt war. Er musste sich keine Sorgen um den gestohlenen Geldbeutel machen, weil er ihn schon in sicheren Händen wusste.

Dann wird Ramóns Grinsen etwas breiter.
„Weißt du, ich hätte das nicht für jeden gemacht.“

Chimi kann nicht anders, er muss das Grinsen erwidern.
Und in seinem Kopf formt sich ein Plan. Wenn Ramón, der netteste Tänzer dieser Stadt, kein Geld annehmen will, wird er sich anders bei ihm bedanken.
Wenn schon – wenn er sich umsieht, sieht er, dass Ramón auch Hilfe braucht. Und auch er würde das nicht für jeden machen.

Als Chimi sich später an diesem Tag verabschiedet, wird er noch von Ramóns Mutter aufgehalten.
„Möchtest du nicht noch zum Abendessen da bleiben?“

Chimi muss nicht auf seine Uhr schauen, um zu wissen, dass noch lange nicht Abendessenszeit ist. Aber er war lange genug hier – er muss endlich mal nach Hause. Ramón hat das so hingenommen, seine Mutter scheint da mehr Probleme zu machen.

„Er muss jetzt heim, Mamá. Aber er kommt wieder.“

Wieder einmal zeigt sich, dass Ramón genau weiß, was er sagen muss, um seine Mutter zu beruhigen.
Sie ist sofort besänftigt und gibt jeglichen Widerstand auf.

Über ihren Kopf hinweg sieht Ramón Chimi an. Und sein Lächeln überzeugt Chimi endgültig davon, sein Versprechen einzulösen und ihn mal zu besuchen.

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Der Duft der Freiheit

Manchmal beginnt ein neues Leben nicht mit einem Knall – sondern mit einem leisen Klick. Eine offene Tür. Ein Moosboden. Stille, die schwerer wiegt als jede Menschenstimme. Und dann: ein erster Atemzug, der nicht befohlen wurde, ein Schritt, der kein Kunststück ist.
Emily weiß nicht, wie man frei ist. Noch nicht. Doch irgendetwas da draußen riecht nach Hoffnung – und nach etwas, das sie nie hatte: Familie.
Aber jede Freiheit hat ihren Preis. Und nicht jede Gemeinschaft heißt neue Bären mit offenen Armen willkommen. Besonders nicht, wenn man sich aus Versehen auf heiliges Terrain setzt…

Wisst ihr, wie wundervoll Freiheit ist? Wie fantastisch das Gefühl ist, Gras unter seinen Pfoten zu spüren, frische Luft einzuatmen, einen Vogel zwitschern zu hören und all das in dem Wissen, dass das nicht in ein paar Minuten vorbei ist, weil man zur nächsten Vorstellung gerufen wird?

Verzeiht mir, wenn ich euch mit meiner Schwärmerei gelangweilt habe. Eigentlich wollte ich von mir erzählen, aber ich bin etwas abgedriftet.

Ich bin Emily, ein ehemaliger Zirkusbär. Warum ehemalig? Nun ja, nach einigen Jahren Schufterei – ich kam als Baby zum Zirkus, heute bin ich ein Jungbär und bis vor kurzem habe ich noch in diesem Zirkus mein täglich Brot (und mehr war es wirklich nicht) verdient…

Wo war ich? Ich habe mich schon wieder verzettelt, ich Schussel. Also, nach einigen Jahren Schufterei, in denen ich tagein, tagaus meine Tricks üben musste und ständig Auftritte hatte, stand ein Tierschutzverein vor der Türe. Sie begutachteten mich und meine Unterbringung, sprachen mit meinen – nun ehemaligen – Herren und dann beschlossen sie, mir die Freiheit zu schenken.

Ich wurde betäubt und als ich wieder aufwachte, lag ich in einem dunklen, wackelnden Raum, der Ähnlichkeit mit dem Käfig hatte, in dem ich von Auftrittsort zu Auftrittsort transportiert wurde. Nachdem der Käfig zum Stillstehen kam, öffnete sich von alleine die Türe und ich erhaschte meinen ersten Blick auf… Natur.

Ihr müsst verstehen, ich kenne die freie Natur nicht. Vermutlich gab es eine Zeit vor dem Zirkus – ich kenne meine Mutter nicht, habe sie nie kennengelernt, aber wenn sie zum Zirkus gehört hätte, wäre sie dort immer noch. Vielleicht war ich in der Zeit vor meiner Erinnerung frei, ich weiß es nicht.

Dieser Blick durch die offene Türe hinaus in einen Wald war mein erster bewusster Kontakt mit der Natur. Es war so viel mehr als der Blick über weite Felder von unseren Stellplätzen aus und auch so viel mehr als der Blick durch ein vergittertes Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft – denn diesmal waren keine Gitter, keine Absperrungen zwischen mir und diesem wunderbaren Anblick.

Trotzdem hatte ich Angst. Ich war misstrauisch geworden in meinen Jahren im Zirkus. Dort hatte ich nämlich zwei Dinge gelernt, die mir in dieser Situation einfielen. Erstens: Man bekommt nicht einfach so etwas Schönes vor die Nase gesetzt. Immer wenn ich ein Leckerli bekam, hatte ich zuvor einen Trick gemacht. Das war diesmal nicht der Fall. Irgendetwas stimmte also nicht.

Zweitens: Es gibt keine Freiheit. Wie oft hatte ich schon eine offene Türe im Zirkus gesehen? Es war ein Leichtes, vor einer Aufführung durch den Stoff des Zeltes abzuhauen. Aber sie bekamen mich jedes Mal wieder und die Bestrafung lehrte mich nach einigen Ausbrüchen, weitere Fluchtversuche zu unterlassen.

Aber da war diese offene Türe und kein Mensch weit und breit. Ich hatte Angst, aber auch Sehnsucht. Ich wollte das, was ich dort sah, genauer unter die Lupe nehmen, ertasten, erschnüffeln, entdecken. Also habe ich ganz vorsichtig einen Schritt nach den anderen nach vorne gemacht, bis ich das Moos unter meinen Füßen gefühlt habe.

Moos, echtes Moos! Ich war davon so überwältigt, dass ich nur nebensächlich mitbekommen habe, wie die Türe hinter mir zufiel und der Wagen mit meinem letzten Gefängnis davon rauschte.

Ich war frei. Ich war frei und ich bin es immer noch. Die Faszination der Freiheit ist immer noch nicht abgeklungen, ich genieße immer noch jeden Atemzug, jeden Schritt. Aber allmählich kommt noch etwas anderes dazu.

Ich könnte noch Stunden, Tage, Wochen, ja, mein ganzes Leben lang über die Wiesen und durch die Wälder toben und ich hätte mich immer noch nicht sattgesehen.

Doch ich bin alleine und ich habe Hunger. Ich weiß nicht, ob es ein Problem ist, dass ich bisher nur gefüttert wurde. An und für sich kann ich mir schon vorstellen, mir selbst meinen Magen zu füllen. Die Einsamkeit ist daher im Moment schlimmer.

Der Gedanke an meine mögliche Familie, die ich nur ganz kurz gekannt habe, noch bevor meine Erinnerung eingesetzt ist, hat eine Sehnsucht in mir geweckt – ich möchte andere Bären finden.

Deshalb suche ich gerade nichts zu essen, auch wenn mein Magen schon knurrt. Ein bisschen halte ich noch durch, das weiß ich aus dem Zirkus, wo ich auch oft weit vor den Futterzeiten Hunger hatte und trotzdem bis dahin nicht verhungert bin.

Ich suche Spuren. Spuren jeglicher Art – Gerüche, Hinterlassenschaften, alles, was darauf hindeutet, dass sich hier in der Nähe Bären aufhalten. Denn dass es irgendwo in dieser Gegend Bären gibt, da bin ich mir ganz sicher. Sonst wäre ich nicht hier ausgesetzt worden.

Alleine in einem Wald herumzulaufen ist auf Dauer ja nicht allzu viel besser als im Zirkus zu sein.

Meine Ahnung trügt mich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs war, doch dann trotte ich einfach so in ein Bärenlager. Ohne Vorwarnung oder ähnliches – ich habe nicht einmal etwas gerochen oder gesehen, bin einfach meinem Gefühl gefolgt.

Und plötzlich stehe ich auf einer Lichtung, auf der es sich unzählige – später erfahre ich, dass es gar nicht so viele waren, aber für einen Bären, der noch nie in seinem Leben andere Bären gesehen hat, sind selbst eine Handvoll Bären unglaublich viel – Bären gemütlich gemacht haben.

Kurz erstarre ich vor Ehrfurcht. Ich bin an meinem Ziel angekommen! Ich bin unter meinesgleichen!

Doch die anderen Bären reagieren nicht. Ein paar heben den Kopf und mustern mich, andere wiederum beachten mich gar nicht. Keiner erhebt sich, keiner heißt mich willkommen.

Ich setze mich wieder in Bewegung, mache vorsichtig mehrere Schritte nach vorne. Wieder keine Reaktion. Selbst dann nicht, als ich mitten auf der Lichtung stehe.

Entmutigt will ich mich fast schon wieder auf den Rückweg machen. Doch ich kann nicht. Ich bin zum ersten Mal unter anderen Bären! Da kann ich nicht einfach so wieder abhauen. Auch wenn die Bären nicht auf mich reagieren, will ich bei ihnen bleiben. Immerhin haben sie mich noch nicht angegriffen. Das ist ein gutes Zeichen, oder?

Okay, ich bleibe hier.

Ich gehe also weiter, sehe mich dabei um. Da, da drüben unter der großen Eiche ist eine größere Lücke im Kreis der Bären. Dort werde ich mich einfach niederlassen. Mal schauen, was dann passiert. Zumindest bin ich dann schon mal ein Teil ihres Kreises und so schaffe ich es hoffentlich, auch von ihnen anerkannt zu werden.

Ich setze meinen Plan in die Tat um und laufe hinüber zu dem Baum, den ich als mein Ziel auserkoren habe. Doch kaum will ich mich dort niederlassen, bekomme ich plötzlich einen Schlag gegen die Schulter und gerate ins Taumeln.

Ein anderer Bär steht neben mir. Er ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn vorher noch im Kreis gesehen habe. Der Bär funkelt mich böse an, er hat seine Pfote gehoben. Dann spricht er und seine Stimme ist tief, knarzig und… bärig. Ganz anders als alles, was ich bisher gehört habe und trotz seiner Angriffshaltung fühle ich mich irgendwie angekommen.

„Was willst du hier?“

Die Gedanken rasen durch meinen Kopf. Wie viel soll ich ihm erzählen? Was will er alles wissen? Wie viel kann ich ihm erzählen, ohne dass er wütend auf mich ist?

Ich habe das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen, aber ob er damit einverstanden ist? Am besten fasse ich mich kurz.

„Ich bin aus einem Zirkus. Ich bin dort befreit worden und hier im Wald ausgesetzt worden. Ich bin sehr froh, zu euch gefunden zu haben. Ich habe noch nie andere Bären getroffen.“

Kurz wird der Blick des Bären ganz weich, doch dann schüttelt er vehement seinen riesigen Kopf.

„Nein, was machst du –“ Mit seiner Pfote wedelt er nun hinüber zur Eiche. „Hier?“

Mein Blick geht ebenfalls hinüber zur Eiche. Mir fällt dort nichts Ungewöhnliches auf – es ist ein Baum, mehr nicht. Ein besonders großer Baum, aber was meint der Bär?

„Hier war ein Platz frei. Ich wollte mich zu euch setzen.“

Er sieht mich forschend an, dann wendet er den Blick ab.

Erst da fällt mir auf, dass sich nun auch die anderen Bären um uns versammelt haben – der, der mich gerade befragt, scheint ihr Anführer zu sein. Zumindest ist er der Größte und dem Anschein nach Stärkste von ihnen. Seine Lippen verziehen sich tatsächlich zu einem Lächeln, als er in die Runde blickt.

„Sie weiß nichts davon.“

Verwirrt sehe ich ebenfalls die anderen Bären an. Doch die Antwort kommt wieder von dem großen Bären. Er legt mir kurz seine Pfote auf die Schulter und bedeutet mir, mit ihm zu kommen. Ich gehorche ihm und so umrunden wir gemeinsam den Baum.

Auf der anderen Seite angekommen, verstehe ich die Aufregung der Bären etwas besser. Dort klebt am Baumstamm ein Stück Papier, es ist dort mit Harz befestigt, soweit ich das erkennen kann. Die Bären reihen sich mit ehrfürchtigem Blick hinter uns auf, der große Bär bleibt neben mir stehen.

„Das hier ist unser wertvollster Besitz. Wir dachten, du willst ihn stehlen.“

„Ich will nichts stehlen! Ich suche ein neues Zuhause.“

Das Lächeln des Bärs ist nun gütig, wieder fühle ich seine Tatze auf meiner Schulter.

„Ich weiß. Und das sollst du auch bei uns bekommen.“

Das ist alles? Ich werde einfach so in die Gemeinschaft aufgenommen? Es sieht ganz danach aus, auch wenn ich das nach dem Angriff noch gar nicht so recht glauben kann. Auf der anderen Seite kann ich die anfängliche Feindseligkeit verstehen und der Anführer-Bär macht den Eindruck auf mich, als könnte er mich mühelos durchschauen.

An und für sich ist das echt unheimlich, doch in diesem Fall hilft mir das erheblich weiter. Die Freude und die Erleichterung durchströmt meinen Körper. Ich habe ein neues Zuhause unter Bären!

Dann fällt mir ein, dass wir immer noch vor dem Blatt Papier stehen. Ich wende mich wieder dem großen Bären zu und als hätte er nur darauf gewartet, fährt er mit seiner Erklärung fort.

„Das ist eine Gottesbotschaft. Sie bedeutet uns sehr viel. Wir können zwar nicht verstehen, was darauf steht, aber es ist eine Botschaft Gottes.“

Ich wage es nicht, den Blick von ihm abzuwenden, um diese Botschaft unter die Lupe zu nehmen. Daher richte ich meine Frage direkt an ihn.

„Warum versteht ihr sie nicht? Ist sie in einer anderen Sprache geschrieben?“

Der Bär schüttelt den Kopf, er wirkt schwermütig.

„Wir können nicht lesen.“

Oh. Aber ich kann lesen! Ich habe es im Zirkus beigebracht bekommen – einer meiner Wärter hat mir öfter etwas vorgelesen und ich habe dabei gerne über seine Schulter geschielt. Dabei habe ich gelernt, die Zeichen auf dem Papier mit den Worten aus seinem Mund zu verbinden.

Nun sehe ich doch hinüber zu dem Zettel und überfliege ihn kurz. Dann kann ich mir das Lachen kaum verkneifen. Die vergötterte Botschaft ist ein Rezept für Apfelmus.

Jahre später…

Erschöpft lässt sich die Bärin, die heute die Aufsicht über den Nachwuchs von diesem Jahr hat, auf der Wiese nieder. Endlich hat sie es geschafft, all die kleinen Bären um sich zu versammeln. Noch ein kurzer ermahnender Blick zu zwei dieser Exemplare, die sich prügeln wollen, dann sind wirklich alle ruhig.

Fast alle.

Ein kleiner vorlauter Bär kann sich nicht zurückhalten.

„Essen wir jetzt endlich?“

Sie schüttelt den Kopf, von den Bärchen kommt ein Chor von enttäuschten Seufzern.

„Ihr wisst doch, dass wir uns erst bedanken.“

Kurzerhand, um das Ritual einzuleiten, greift sie nach den Pfoten der Bären neben sich. Diese nehmen wiederum die Pfoten ihrer Nebenbären, bis sie in einem durch die Pfoten verbundenen Kreis sitzen. Dann ergreift sie wieder das Wort.

„Wir danken dem lieben Gott dafür, dass er uns Essen gegeben hat. Und wir danken seiner Botschafterin, der Bärin Emily, der Herrin der Zungen, die uns das Rezept für unsere Gottesspeise gegeben hat.“

Die Bären murmeln hastig weitere Dankesworte, dann sind die kleinen Racker nicht mehr zu stoppen. Jeder schnappt sich seinen Löffel, sie machen sich über die große Schüssel her.

Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, bevor auch sie ihren Löffel nimmt und versucht, sich etwas von dem Apfelmus zu ergattern.

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Mit Zimt und Zombie

Manche Dinge wirken zu perfekt, um wahr zu sein. Zu glatt. Zu makellos. Und genau dort beginnt das Flimmern – dieser feine Riss im Lack, den du erst siehst, wenn du zu lange hinschaust.
Jill war so ein Riss.
Ein freundliches Lächeln, der Duft nach Apfel und Zimt – und etwas darunter, das du nicht benennen kannst, weil es nicht von dieser Welt ist.
In ihrer Küche brodelt etwas. Und draußen – draußen wird geschrien. Doch Jill kocht weiter.
Und du? Du wirst kosten. Ob du willst oder nicht.

Kennt ihr diese makellosen Menschen, die einem irgendwie suspekt sind? Man weiß nicht genau, was es ist, aber irgendetwas stößt einem bei diesen Menschen sauer auf. Sie lächeln einen mit ihrem makellosen Lächeln an, doch dahinter liegt etwas Komisches. Ich denke, ihr habt jetzt ein Bild vor Augen und jetzt wisst ihr auch, wie Jill war.

Aber fangen wir am Anfang an, dort, wo Jill noch genau so war – makellos und trotzdem hintergründig merkwürdig.

„Hallo, wie geht es euch?“

Wir befinden uns in einer typischen amerikanischen Vorstadtsiedlung – ein ordentliches kleines Haus neben dem anderen, darum jeweils ein ebenso ordentlicher Garten. Ja, auch wir sind in einem solchen Haus. Um genauer zu sein, stehen wir in dem Garten davor.

Und auf der anderen Seite der Hecke, die unser Grundstück von dem benachbarten trennt, steht Jill.

Jill passt in diese Siedlung. Auch sie entspricht dem Klischee. Typische Vorstadtmutter mit blonden Haaren, die egal was passiert, immer gleich perfekt liegen, immer strahlend, immer fröhlich und immer um Kontakt mit den Nachbarn bemüht.

Sie wartet die Antwort nicht ab, spricht stattdessen gleich weiter. Damit wird endgültig klar, dass ihre Frage nur eine Floskel war und ihr ihre eigentliche Frage wichtiger ist.

„Wollt ihr zum Grillen hinüber kommen?“

„Bob hat zu viel Fleisch eingekauft.“ Jill nickt zum Grill hinüber, wo ihr Ehemann Bob steht. Natürlich hebt er sofort die Hand und winkt lächelnd. Selbst Jills Entnervtheit wirkt makellos und selbstverständlich ist die Schusseligkeit ihres Mannes kein Problem, er ist ja schließlich auch makellos.

Ein kurzer Blick zu meiner Familie – sie zucken unisono mit den Schultern und nicken dann. Klar, Jill und Konsorten mögen zwar etwas merkwürdig sein, aber wer sagt schon nein zu gratis Essen? Vor allem muss man unseren Nachbarn eines lassen: Kochen und Grillen können sie.

Ich wende mich also wieder Jill zu.
„Gerne. Sollen wir etwas mitbringen?“
„Ach, das ist nicht nötig, wir haben alles da!“

Natürlich winkt Jill ab – sie ist ja die perfekte Hausfrau. Aber gut, wie gesagt, uns soll es nur recht sein.

Wir machen uns also auf den Weg nach drüben und werden dort, kaum dass wir den Garten betreten haben, schon von unseren Nachbarn empfangen. Die kleinen Kinder wuseln um uns herum, Bob hat sich kurz von seinem Grill losgeeist, um uns zu begrüßen und auch Jill ist von der Partie.

Sie packt mich am Arm und zieht mich zu sich, Richtung Haus.
„Du musst unbedingt mit mir mitkommen! Ich muss dir unbedingt meine Apfelbutter zeigen!“

Ich folge ihr bereitwillig. Nicht nur, weil das nun mal dazu gehört, wenn wir uns schon bei Jill durch­schnorren, sondern auch, weil sie mich echt neugierig gemacht hat. Apfelbutter sagt mir nichts und dazu ihre Aufregung… Ich bin gespannt.

Unser Weg führt uns durch das Wohnhaus bis hin zur Küche, die anderen bleiben draußen im Garten. Nur Jill und ich – nur mir zeigt sie das große Geheimnis. Gut, vielleicht ist das Tamtam doch etwas übertrieben.

In der Küche riecht es schon sehr stark nach Apfel. Darunter mischt sich ein Hauch Zimt, aber trotzdem nicht allzu weihnachtlich – dafür sorgt eine saure Note. Essig? Ich weiß es nicht, doch so, wie Jill mich ansieht, werde ich es gleich erfahren.

Tatsache. Kurz geht sie hinüber zu einem Topf auf dem Herd, rührt darin herum, dann wendet sie sich wieder mir zu und strahlt mich an.
„Das wird Apfelbutter.“

Ich trete neben sie und werfe einen Blick in den Topf. Darin kocht eine braune Masse vor sich hin. Sieht nicht unbedingt nach Butter aus.
„Und was ist da drin?“
„Keine Butter.“ Jill lacht, als hätte sie einen richtig guten Witz gemacht.

Dann winkt sie zu einem Punkt auf der Ablage. Dort sind mehrere Dinge aufgereiht, die scheinbar alle zur Apfelbutter gehören.
„Apfelmost, Zimt, Gewürze, Zitrone. Und natürlich Äpfel.“

Bevor ich die Zutaten oder den Inhalt des Topfes weiter unter die Lupe nehmen kann, zieht etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf mich. Von draußen kommt ein Schrei und der klingt definitiv nicht danach, als hätte ein Kind beim Spielen geschrien.

Ich schaue durch das Fenster nach draußen und sehe einen von Jills Jungs vorbei rennen. Sein Gesichtsausdruck ist voller Angst.
„Jill?“

Jill ignoriert mich. Sie hat weder den Schrei noch ihr panisches Kind bemerkt.
„Apfelbutter ist ganz fantastisch. Das wirst du sehen, wenn du sie nachher probierst. Am besten isst man sie auf einem Stück Brot – eigentlich esse ich sie immer erst zum Frühstück, aber wenn ich sie frisch gemacht habe, kann ich einfach nicht widerstehen, da brauche ich dann sofort etwas davon.“

Kurz sehe ich sie an, versuche, in ihr Lachen einzustimmen. Dann sehe ich wieder nach draußen und probiere, die anderen zu erspähen.

Nachdem ich einen Schritt zur Seite, hin zu Jill, gemacht habe, sehe ich, dass der Rest unserer Familien dicht aneinander gedrängt in einer Ecke des Gartens steht. Und was ist das da vor ihnen? Das ist doch eine weitere Person, oder? Sie ist… grau. Ihre Kleidung, ihre Haut, alles.

Ich will Jill darauf aufmerksam machen, doch noch bevor ich die graue Person näher analysieren kann, packt sie mich wieder am Arm und zieht mich hinüber zu einem Regal, in dem lauter Äpfel aufgereiht sind.
„Meine Mutter hatte dieses Jahr so viele Äpfel und ich konnte einfach nicht widerstehen – ich musste sie mitnehmen!“

Wieder kommt von draußen ein Schrei – so angsterfüllt und schrill, dass mir das Blut in den Adern gefriert. Ich reiße mich von Jill los und hechte zum Fenster zurück. Nun haben sich weitere Figuren zur ersten grauen Person gesellt. Sie umzingeln unsere Familien, die sich inzwischen aneinander klammern.

Und dann dreht sich eine dieser Figuren um und sieht mich an. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das Gesicht… Da ist kein Gesicht, zumindest kein richtiges. Es ist eingefallen, verwittert, verfault. Das bisschen Haut, das noch da ist, hängt teilweise in Fetzen weg, dem Wesen fehlt ein Auge. Zombies. Diese Figuren sehen aus wie Zombies.

Jill ist dazu übergegangen, Gläser aus dem Schrank zu holen. Sie erzählt mir irgendetwas über Einwecken, doch ich bekomme nun gar nichts mehr mit. Da draußen im Garten sind Zombies und sie umzingeln unsere Leute!
„Jill! Wir müssen raus!“

Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen. Ob es nun etwas bringt, nach draußen zu gehen und – ja, und was? Kämpfen? Vielleicht sollten wir auch Hilfe rufen, selbst wenn ich nicht weiß, wen. Fest steht, dass es absolut gar nicht hilft, wenn wir in der Küche bleiben und über Apfelbutter reden. Ist eigentlich einleuchtend.

Jedoch nicht für Jill. Sie packt mich zum wiederholten Male am Arm und hält mich fest. Diesmal ist der Griff viel stärker als zuvor.
„Nein.“

Mehr kommt erst einmal nicht. Sie lächelt mich an und die Süße ihres Lächelns widerspricht ihrem Griff – und ihrem Blick, denn der ist… besessen? Unheimlich, das auf jeden Fall. So unheimlich, dass ich mich nicht lösen kann und ihr gehorsam zum Herd folge.

Dort nimmt sie einen Löffel in die Hand und schöpft damit einen Happen der Apfelbutter heraus.
„Probier mal! Die Apfelbutter ist bald fertig – ich habe sie jetzt schon fast zwei Stunden lang köcheln gelassen.“

Ich starre auf die braune Masse auf dem Löffel. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass drei der Gestalten von den Menschen ablassen und aufs Haus zugehen. Sie schlurfen nur, sie sind unglaublich langsam, aber sie haben ein Ziel und das sind wir.

Und was tun wir? Apfelbutter probieren.

Ich starte einen weiteren Versuch, Jill zur Flucht zu bewegen.
„Jill, wir sollten wirklich–“
„Noch nicht probieren? Das muss keiner wissen, das bleibt unser kleines Geheimnis.“

Sie zwinkert mir verschwörerisch zu und ich könnte vor Verzweiflung schreien. Warum lässt sie nicht zu, dass ich sie auf die Zombies aufmerksam machen?

Betreffende Zombies verschwinden nun aus meinem Blickfeld. Kurz darauf höre ich das Knacken einer Türe – Haustüre, vermutlich.

Vor meinem Gesicht schwebt ein Löffel mit Apfelbutter und Jills manischer Blick wird langsam ungeduldig. Ich schließe die Augen, öffne den Mund und probiere von der Apfelbutter. Sofort breitet sich eine fruchtige Süße in meinem Mund aus. Jill hat recht, die Apfelbutter ist wirklich gut. Leider aber nicht so gut, dass ich die Gefahr vergesse, in der wir schweben.

Vom Flur kommt das Geräusch von schlurfenden Füßen.
„Jill!“

Ein letzter Versuch. Doch es bleibt dabei, denn dann öffnet sich die Türe und ich blicke erneut in eines dieser verfallenen, verwesten Gesichter – nur mit dem Unterschied, dass es diesmal viel näher ist.

Wir sind eingeschlossen. Der erste Zombie schiebt sich in den Raum, die Türe wird blockiert vom nächsten, der auch Anstalten macht, in die Küche zu schlurfen. Nicht einmal das Küchenfenster ist ein Ausweg – als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sich ein weiteres graues Gesicht gegen die Scheibe presst.

Ich erstarre. Selbst wenn ich wüsste, was ich tun sollte – ich könnte mich nicht mehr bewegen.

Jill dagegen ist weiterhin unbekümmert. Sie… Sie lacht. Der Raum füllt sich allmählich mit Zombies und sie lacht einfach. Was soll das?
„Ach, diese ungeduldigen Gierschlunde. Sie wollen auch probieren.“

Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ist sie etwa der Meinung, diese Zombies sind ihre Familie? Ich mustere die Gestalten, erkenne jedoch keine bekannten Gesichtszüge. Immerhin etwas.

Jill geht hinüber zu einer Schublade und öffnet sie. Dabei ignoriert sie den Zombie, der direkt daneben steht. Sie nimmt mehrere Löffel heraus, geht damit hinüber zum Topf und gibt auf jeden Löffel etwas Apfelbutter.

Diese Löffel verteilt sie an die Zombies, die sie verwundert – soweit man das bei solch entstellten Gesichtszügen sagen kann – annehmen. Immerhin wissen sie, was sie damit tun sollen – sie schieben die Löffel in ihre Münder.

Nach einer Weile sind alle versorgt und jeder Zombie lutscht an einem Löffel. Ich sehe zu Jill, die sich wieder ihrem Topf zugewendet hat und nun summend darin herumrührt. Keine Erklärung von ihr, was das soll.

Dann macht es plötzlich einen Knall und der erste Zombie verpufft. Er ist einfach – weg. Erst hängt noch eine Staubwolke in der Luft, dort, wo der Zombie stand, doch dann verschwindet auch sie, als hätte es ausgerechnet an dieser Stelle einen leisen Lufthauch gegeben hätte.

Und noch bevor ich mir die Stelle genauer ansehen kann, gibt es den nächsten – und gleich noch einen – und noch einen – und noch einen. So verschwindet ein Zombie nach dem anderen, bis die Küche wieder – bis auf Jill und mich – leer ist.

Einen Moment brauche ich, um meine Sprache wiederzufinden, dann platzt es aus mir heraus.
„Was war das?“

Jill dreht sich zu mir um, sie lächelt – natürlich tut sie das. Von ihrem manischen Blick ist nichts mehr übrig, sie ist jetzt wieder von oben bis unten und rundherum die perfekte, makellose Vorstadtmutti von nebenan.
„Das war Apfelbutter. Unglaublich lecker, oder?“

Ich habe aus diesem Ereignis meine Lehren gezogen. Umgehend ließ ich mir von Jill ihr Apfelbutterrezept geben, ich habe es nachgekocht und in meinem Vorratsschrank befinden sich seitdem ständig ein paar Gläser Apfelbutter.

Eine weitere Lehre wäre, dass ich Abstand zu Jill halten würde – ich weiß zwar immer noch nicht, was mit ihr an diesem Tag los war, aber geheuer ist mir ihr Verhalten immer noch nicht.

Allerdings lässt sich das nicht umsetzen. Seit der Zombie-Attacke lädt Jill uns noch öfter zu sich ein. Und ich traue mich einfach nicht, ihr abzusagen.

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Gold im Grau

Manchmal genügt ein kleiner Moment, um unsere Sicht auf die Welt zu verändern. Diese Geschichte beginnt an einem grauen Herbstmorgen – und endet ganz woanders.

Magdalena hasst den Herbst. Das wird ihr wieder bewusst, als sie aufwacht und ihr erster Blick nach draußen geht. Ihre Wohnung hat eine traumhafte Lage und die Aussicht vom Bett aus ist fantastisch – allerdings nur im Sommer. Jetzt sieht sie grauen Himmel und einen Baum, der schon fast alle Blätter abgeworfen hat und seine leeren Äste in ihr Blickfeld streckt. Am liebsten würde sie sich umdrehen, weiterschlafen und erst im Frühling wieder aufwachen.

Ein Blick auf den Wecker verrät ihr, dass das nicht möglich ist – nicht einmal umdrehen geht, sie muss aufstehen. Also schlägt sie missmutig die Bettdecke zurück, steigt aus dem Bett und schlurft ins Badezimmer. Dort reicht ein kurzer Blick aus dem Fenster, um festzustellen, dass sich auf die paar Meter die Aussicht nicht geändert hat. Es ist und bleibt eintönig grau. Herbst, die goldene Jahreszeit? Also bitte.

Auch der Gang in die Küche bringt keine Besserung. Von dort aus sieht sie wieder den halb entblätterten Baum und grau, grau, überall grau. Als sie sich gerade Milch für ihr Müsli aus dem Kühlschrank holen will, hält sie inne. In der Mitte des Kühlschranks steht ein Messbecher, der mit Alufolie abgedeckt ist. Vorne klebt ein Post-It mit der Aufschrift „Gegen die Herbstdepressionen“.

Ah, das Geschenk von ihrer besten Freundin Kim. Die ist das absolute Gegenteil von Magdalena – sie liebt den Herbst, liebt es, wenn die Bäume ihre Blätter verlieren und es langsam düster wird. Magdalena nimmt den Messbecher heraus und macht die Alufolienabdeckung ab. Im Becher befindet sich selbstgemachter Waffelteig – Kürbiswaffelteig, natürlich, es ist ja Kim und es ist ja Herbst.

Soll sie heute mal auf ihr Müsli verzichten und sich Waffeln gönnen? Waffeln an und für sich klingen ja echt gut und wenn sie zu sehr nach Kürbis schmecken, kann sie den Geschmack mit Zucker, Sahne oder Sirup ertränken. Okay, es ist beschlossene Sache, heute gibt es zum Frühstück Waffeln. Kürbiswaffeln, dank Kim. Wäre ja schade, wenn sie sich die Mühe vergeblich gemacht hätte und der Teig verderben würde.

Das Waffeleisen ist schnell hergerichtet und während es an Temperatur zulegt, kann sich Magdalena schon mal einen Teebeutel aus ihrer Teekiste aussuchen. Wenn die Waffeln ihre Stimmung nicht heben, schafft es vielleicht der Tee.

Dann gibt sie etwas Teig in das Waffeleisen und wartet wieder. Tisch decken muss sie nicht, sie beschließt spontan, es sich auf ihrer breiten Fensterbank bequem zu machen. Nach einer Weile verkündet ihr Timer, dass die Waffel – zumindest laut Kims Anleitung – fertig ist.

Magdalena lädt sich die Waffel, die zumindest schon mal recht gut riecht, auf einen Teller und setzt sich damit sowie mit einer Tasse Tee auf die Fensterbank. Dann probiert sie einen Bissen ihrer Waffel.

Schmeckt echt gut. Also… so richtig gut. Nicht so süß wie normale Waffeln, aber sehr angenehm – ein bisschen würzig, ein bisschen nach Kürbis… Umgehend folgt ein zweiter Bissen.

Als ihr Blick wieder nach draußen geht, sieht die Welt ganz anders aus. Vor ihrem Fenster stehen mehrere Bäume, deren Blätter sich bunt verfärbt haben, um die bereits leeren Äste des größten Baumes spielen sich die Nebelschwaden. Die Stimmung ist ganz eigenartig, doch jetzt findet Magdalena sie nicht mehr negativ – es hat etwas Mystisches, Geheimnisvolles.

Allmählich versteht sie, wie man den Herbst schön finden kann.

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