Online-Nomaden

Drei Wünsche und ein Kochlöffel

Etwas lag in der Luft – mehr als nur der Duft aufgewärmter Fertiggerichte und der leichte Dampf, der aus der Mikrowelle aufstieg. Es war ein stilles Flirren, kaum wahrnehmbar, doch spürbar für jene, die genau hinsahen. In der kleinen Küche einer noch kleineren WG geschah an diesem Tag etwas, das selbst die ungeduldige Chantal für einen Moment innehalten ließ. Zwischen Klicks auf dem Handy und dem Summen der Mikrowelle bahnte sich etwas an, das nicht in ihren Alltag gehörte. Noch wusste sie nicht, dass dieser Tag anders enden würde, als sie ihn begonnen hatte. Und dass manchmal selbst der banalste Moment der Anfang von etwas Unfassbarem sein kann.

Chantals lange Fingernägel klackern auf dem Display ihres Handys. Nicht etwa, weil sie etwas eingibt – sie tippt ungeduldig auf dem Mobiltelefon herum. Essen aus der Mikrowelle schön und gut, aber die Wartezeit ist echt nervig. Okay, es geht schneller und einfacher als normales Kochen, aber… Es nervt.

Die Mikrowelle ist von ihrer Ungeduld unbeeindruckt, natürlich. Seelenruhig dreht der Inhalt seine Runden und ein Blick auf die Zeitanzeige verrät Chantal, dass sie noch ein Weilchen warten muss. Okay, wenn das so ist… Wieder klicken ihre Finger auf dem Display. Mal sehen, was ihr Handy an Abwechslung zu bieten hat. Instagram… Nichts, da hat sich in den letzten dreißig Sekunden – seit sie das letzte Mal nachgesehen hat – nichts getan. Auch keine neuen Nachrichten. Facebook… Ah, ein süßes Video. Immerhin etwas.

Als das Video vorbei ist, rattert ihre Mikrowelle weiter vor sich hin. „Boah ey…“ Genervt streicht sich Chantal eine Haarsträhne hinter das Ohr, wieder sieht sie sich die Zeitanzeige an. Gleich ist ihr Essen fertig, endlich. Nur noch ein paar Sekündchen… So viele Sekündchen, dass sie erneut die Runde durch ihre Apps schafft, bis endlich das Pling der Mikrowelle ertönt. Nun lässt Chantal sich nicht mehr aufhalten. Umgehend öffnet sie die Türe, greift vorsichtig nach ihrer Schüssel und hebt sie heraus.

Kaum hat sie die Schüssel abgestellt, hebt sie den Deckel ab und lässt den Dampf entweichen. Riecht schon ziemlich gut… Doch dann fällt Chantal etwas auf, das sie erst einmal von der bevorstehenden Mahlzeit ablenkt. Der Dampf verschwindet nicht. Dort, wo sie den Deckel anhebt, wo der Dampf entweicht, formt sich eine Masse, die fast schon fest wirkt – die zumindest so geballt ist, dass sie deutlich zu sehen ist, gräulichweiß, mitten in der Luft, tropfenförmig. Chantal erstarrt, sie blickt fassungslos auf diese merkwürdige Wolke und versucht zu begreifen, was genau sie da sieht. Dann entsteht ein kleiner Riss in der Wolke, er bewegt sich und…

„Hallo.“ Die Starre löst sich auf einen Schlag. Chantal lässt den Deckel fallen, sie schreit. Sie schreit und übertönt damit fast einen viel, viel leiseren, aber genauso entsetzten, wenn auch eher empörten Schrei. Intuitiv weicht Chantal zurück, Schritt für Schritt, bis sie mit dem Rücken an den Küchenschrank stößt. Hilfesuchend presst sie sich dagegen, ihr Blick ist immer noch fest auf ihr Essen gerichtet – und auf die Wolke, die sich langsam aufrappelt.

Kann sich eine Wolke aufrappeln? Diese Wolke schon – denn genau das ist es, was sie tut. Sie erhebt sich langsam, wackelt ein bisschen, bekommt wieder diese Tropfenform. Und wieder entsteht der Riss, der ein bisschen wie ein Mund aussieht – und zwei weitere darüber, zwei Augen, zwei Augen, die sie sehr wütend anfunkeln. Die Worte purzeln aus ihrem Mund, ohne dass sie darüber nachdenken kann. „Was bist du?“

Für einen kurzen Moment hofft sie, dass das alles nur eine Einbildung ist. Dass sie ihr Essen schlichtweg zu lange in der Mikrowelle gelassen hat und es dadurch so heiß wurde, dass ziemlich viel Dampf entstand, der nun auf einem Schlag entwichen ist. Dass sie sich das „Hallo“ gerade eben nur eingebildet hat oder es aus ihrem Handy kam oder so etwas. Doch sie wird enttäuscht. Wieder hört sie das leise Stimmchen.

„Ziemlich sauer und das zu recht, wenn du mich fragst, Püppchen.“ Die Angst wird ein bisschen weniger, dafür steigt nun Empörung in ihr auf. Wie hat dieser Rauchfetzen sie gerade genannt? „Ey, ich bin kein Püppchen.“ „Na klar, und ich bin Brad Pitt.“ „Ja, was bist du denn jetzt?“ Blind tastet Chantal am Küchenschrank entlang. Sie will nicht den Blick vom Dampf nehmen, aber sie will sich bewaffnen. Als sich ihre Finger um einen Kochlöffel schließen, wird sie etwas entspannter.

„Komm mal näher, Mädchen. Ich will nicht die ganze Zeit so schreien.“ Schreien ist das also? Am liebsten würde Chantal sich darüber lustig machen, dass dieses Wesen sein Wispern als ‚Schreien‘ bezeichnet, aber schon das bisschen, was er von sich gegeben hat, reicht, um zu erkennen, dass er das nicht gut aufnehmen würde. Und sie will nun einmal endlich wissen, mit was sie es da zu tun hat. Der Griff um ihren Kochlöffel wird fester, sie macht ein paar Schritte auf die Ablage mit der Schüssel und dem Etwas zu.

Nun erkennt sie Konturen im Rauch, sieht, dass er tatsächlich so etwas wie ein Gesicht hat und dass dieses aus mehr als dem Mund und den Augen besteht. Am liebsten würde sie ihn mit dem Kochlöffel anstupsen, doch wieder hält sie die Erkenntnis, dass er das nicht gutheißen würde, davon ab. „Okay, jetzt bin ich da. Also?“ „Sag‘ ‚bitte‘.“ Chantal verdreht die Augen, erneut zieht sie in Betracht, dieses aufmüpfige Wesen einfach zu pieksen. „Was bist du, bitte?“

Die Mundwinkel – die Enden des großen Risses – verziehen sich nach oben, das Wesen grinst sie an, ganz eindeutig. Es ist unglaublich, wie viel Emotion man aus diesem bisschen Rauch herauslesen kann. „Ein Djinn.“ Chantals Stirn runzelt sich, sie denkt angestrengt nach. „Wie in diesem einen Film da? Peter Pan?“ „Alladin.“ „Ja, oder so. War der nicht viel größer und… muskulöser und so?“ Als würde ein Windhauch ihn hin und her treiben, bewegt sich der Geist umher.

Sieht ganz niedlich aus, auch wenn seine Antwort darauf schließen lässt, dass es eher bedrohlich wirken sollte. „Meine Größe reicht völlig, um meine Aufgaben zu erledigen. Und wenn du dich nicht zusammenreißt, verschwinde ich.“ „Darfst du das?“ „Nein. Leider nicht.“ Okay, das Wesen ist mal wieder wütend. Und auch wenn Chantal nun weiß, dass er sie ertragen muss, egal wie schlimm sie zu ihm ist, beschließt sie, von dem Thema abzulassen.

Ganz offensichtlich hat ihr Djinn ein Problem damit, mit seinen besser gebauten Kollegen verglichen zu werden. „Okay, deine Aufgaben… Erfüllst du Wünsche?“ Das Männchen verschränkt die Arme vor der Brust und Chantal ist sich ziemlich sicher, dass er die Augen verdreht – auch wenn sie nicht weiß, wie sie darauf kommt. Also bitte, er sollte ihr dankbar dafür sein, dass sie nicht weiter nachgebohrt hat, warum er so winzig ist. „Ja. Du hast drei Wünsche frei.“

Sie nimmt keine Rücksicht auf seine Genervtheit. Stattdessen hellt sich ihr Blick auf, sie kommt noch ein Stück näher. „Ich darf mir wünschen, was ich will?“ „Nicht ganz. Du darfst dir keine weiteren Wünsche oder unendlich viele Wünsche wünschen.“ Wieder kommt die Runzelstirn zum Einsatz, wieder denkt Chantal nach. „Also, wenn ich mir jetzt schöne Augenbrauen wünsche, dann habe ich die?“ Auch diesmal ist sie sich sicher, dass das Wesen – der Djinn – die Augen verdreht.

Am liebsten würde sie ihm gegen den Kopf schnipsen, dem arroganten kleinen Kerl. Aber wenn er ihr Wünsche erfüllen kann… Wäre echt lustig, sich zu wünschen, dass er nett zu ihr sein soll. Da würde er wahrscheinlich platzen. „Genau.“ „Okay, dann… Wünsche ich mir schöne Augenbrauen.“ Kurz murmelt das Männchen etwas vor sich hin, was verdächtig nach ‚Verschwendung‘ klingt, dann reibt es seine kleinen Händchen aneinander und schwingt hin und her.

Diesmal sieht es nicht nach einem Windstoß aus, sondern gewollt – fast, als würde es auf einer Hängematte sitzen. Als er die Hände auseinander nimmt und in die Seiten stemmt, muss er gar nichts mehr sagen. Chantal zieht sofort ihr Handy heraus, um die Frontkamera zu aktivieren. Kurz darauf quiekt sie. „Oh mein Gott, das hat ja tatsächlich geklappt!“ „Natürlich hat es geklappt. Es ist mein Job, Wünsche zu erfüllen.“

Sie hört ihm nicht zu – lieber überlegt sie, was sie sich noch wünschen könnte. Einen vollen Kleiderschrank? Mh, wer weiß, was er dann hineinlegt. Einen vollen Geldbeutel, damit sie nachher, wenn sie mit ihrer besten Freundin Marie shoppen geht, kaufen kann, was sie will? Ja, schon eher. Oder… „Ich wünsche mir, dass meine Nagellackflaschen immer voll sind!“ Diesmal lässt sich der Djinn gar nichts mehr anmerken.

Er geht sofort dazu über, seine Hände zu reiben und sich hin und her zu wiegen. Dann hält er inne und sieht sie herausfordernd an. „Fertig.“ Gut, das nimmt sie jetzt so hin – wenn er das mit den Augenbrauen geschafft hat, wird auch das mit dem Nagellack geklappt haben, das muss sie nicht extra überprüfen. Es ist also Zeit für… „Jetzt habe ich noch einen Wunsch frei, oder?“ „Korrekt. Und du darfst dir keine weiteren Wünsche wünschen.“

Was soll sie dann nehmen? Quasi die ganze Welt steht ihr offen, aber sie muss sich jetzt entscheiden. Das spöttische Stimmchen des Männchens unterbricht ihre Gedanken. „Was darf es sein? Eine Brustvergrößerung? Oder doch lieber die Lippen?“ Dieses Mal ist es nur noch die Sorge davor, was passieren würde, wenn sie diesen frechen Zwerg berührt, die sie davon abhält, ihn zu schlagen. „Habe ich das etwa nötig?“ „Natürlich nicht.“

So, nun muss sie sich aber konzentrieren, egal, was der Djinn sagt oder tut. Und plötzlich hat sie den perfekten Wunsch. Sie grinst – das Grinsen wird umgehend vom Djinn erwidert. „Ich wünsche mir, dass es für alle meine Probleme und Sorgen ganz einfache, schnelle Lösungen gibt, jetzt und in der Zukunft.“ Das Lächeln des Djinns verblasst, er seufzt. Es klingt ein bisschen wie ein Mausepups, findet Chantal, doch das kann sie ihm nicht sagen, weil er schon spricht.

„Also Brustvergrößerung und Lippenvergrößerung. Raffiniert.“ „Und Weltfrieden. Und das neue Auto für meine Mutter.“ Nun ist das Grinsen endgültig verschwunden, der Djinn sieht sie fassungslos an. „Aber das…“ „Das entspricht den Regeln. Ich wünsche mir nicht, dass alles, was ich mir wünsche, passiert, sondern dass alles, was ich brauche, passiert.“ „Aber…“

Mehr hört sie vom Djinn nicht. Es gibt ein leises Plopp, wie ein Korken, der aus einer Flasche gezogen wird – und dann ist er weg. Die kleine Rauchfahne ist einfach verschwunden, übrig ist nur noch ganz normaler, gesichtsloser Dampf, der von ihrem Essen aufsteigt.

Das war alles? Chantal zuckt mit den Schultern, dann greift sie nach einer Gabel und probiert von ihrem Essen. Es hat genau die richtige Temperatur, nicht zu warm, nicht zu kalt. Also nimmt sie die Schüssel mit und nimmt damit am Küchentisch Platz.

Von dort aus kann sie in den Garten blicken. Der Himmel ist strahlend blau, von den dicken Gewitterwolken, wegen denen Chantal Sorge um ihre Frisur hatte, ist nichts mehr zu sehen. Chantal grinst immer noch.

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Ein Morgen wie jeder andere

Manche Morgen beginnen ganz unscheinbar – so wie dieser hier. Doch hinter dem vertrauten Alltagsgrau verbirgt sich etwas, das niemand erwartet hätte. Etwas, das unsere kleine Welt aus den Angeln heben wird. Vielleicht spürst du es schon, dieses vage Gefühl, dass heute alles anders ist. Dass sich Türen öffnen, die besser verschlossen geblieben wären. Dass die Geschichten, die du zu kennen glaubst, nur eine Fassade sind – und darunter ein ganz anderes Geheimnis wartet. Bereit, entdeckt zu werden.

Es ist ein Morgen wie jeder andere auch – also ein beschissener. Dabei könnte er eigentlich echt gut sein. Es sind nämlich Ferien und ich könnte in meinem Bett liegen und ausschlafen. Aber nein, meine Mutter beharrt auf einen gemeinsamen Start in den Morgen. Wir sollen alle beieinander sitzen, sollen alle vernünftig essen… Das ist so überflüssig, wirklich. Was ändert es schon, ob ich am Tisch sitze oder in meinem Bett liege? Sie interessieren sich eh nicht für mich. Mann, ich vermisse mein Bett.

Dementsprechend müde hänge ich auf meinem Stuhl, mein Kopf liegt auf der Tischplatte, neben der Müslischüssel. Allerdings nur ein paar Augenblicke, dann bemerkt mich meine Mutter. „Mensch, setz‘ dich doch vernünftig hin.“ War ja klar. Ständig hat sie etwas zu kritisieren und dass ich etwas zu kritisieren habe – nämlich, dass ich nicht wie meine Freundinnen um die Uhrzeit noch im Bett liegen kann –, ist ihr mal wieder egal. Aber damit sie ruhig ist, setze ich mich wieder aufrecht hin. Zumindest ein Weilchen… Meine Mutter sieht es nicht einmal. Na super.

Mir gegenüber sitzt meine kleine Schwester in ihrem Kinderstühlchen. Sie ist fröhlich und munter, also das Gegenteil von mir. Allerdings wäre ich auch wesentlich fröhlicher, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Die ganze Zeit pantscht sie mit ihren kleinen dicken Händchen im Müsli herum und keiner sagt etwas. Das ist so typisch. Ich habe – im Gegensatz zu ihr – nicht einmal den Tisch dreckig gemacht, aber natürlich bekomme nur ich Ärger. Aber dass sie der kleine Liebling ist, das ist mir schon länger klar.

Dann sitzt noch mein Vater mit am Tisch. Seine Zeitung verdeckt größtenteils die Sicht auf den Esstisch – es reicht scheinbar gerade mal, um die Kaffeetasse und sein belegtes Brot zu sehen. Danach greift er abwechselnd. Einerseits bin ich ja ganz froh, dass er in seiner eigenen kleinen Welt ist. Sonst hätte er mich wahrscheinlich auch noch angemosert. Andererseits ist das so was von sinnlos. Wenn er mich eh nicht sieht, warum bin ich dann hier? Ich könnte genauso gut im Bett liegen. Meine Eltern bestimmen. Und das nutzen sie aus, um unsinnige Anweisungen zu machen. Das ist so beschissen.

Jetzt ist meine Mutter wieder zufrieden. Sie tut so, als wäre alles gut – strahlt vor sich hin, trinkt aus ihrer Kaffeetasse… Ihr ist mal wieder egal, dass sie mich gerade eben noch so angepampt hat. Gut, dann ist es mir auch egal. Ich rutsche wieder in meinem Stuhl nach unten. Soll sie doch schimpfen. Plötzlich gibt mein Vater ein Lebenszeichen von sich. Hätte ich auch darauf verzichten können – er schimpft nämlich mal wieder. Andererseits schimpft er nicht über mich und dann ist es nicht so schlimm. Es geht um einen Zeitungsbericht, auf den er gerade gestoßen ist. Darin geht es um das riesige, brach liegende Grundstück gleich hinter der Kirche und damit weiß ich sofort, was er zu schimpfen hat. Ist nämlich sein Lieblingsthema.

Mein Vater arbeitet in einer Bank in unserer Kleinstadt in der Immobilienabteilung. Er ist ein immer korrekt angezogener, vielbeschäftigter Mann. Sieht man ja auch jetzt, wie viel er zu tun hat. Da stehe ich natürlich immer hinten an. Und das Grundstück hinter der Kirche… Er meint, das wäre ein Schandfleck in der Gemeinde und wenn man ihn nur machen lassen würde, sähe das alles ganz anders aus. Wenn er nur den in die Finger bekäme, dem der Grund gehört, den würde er schon zum Verkauf überreden und so weiter und so weiter. Er könnte sich stundenlang darüber aufregen und ich finde es echt lustig, wie er sich da immer echauffiert. Sieht er mal, wie es mir geht, wenn er mir wieder blöd kommt.

Für mich ist dieser Platz kein Problem. Schon als ich klein war, war ich ständig dort – es ist der Treffpunkt von allen Kindern und Jugendlichen in dieser Ecke der Stadt. Man kann dort Fußball spielen, Indianer, Fangen… Oder auch einfach nur herumsitzen, sich mit anderen treffen und lästern. Meine Mutter meint, es wäre doch prima, mitten in der Stadt ein Biotop zu haben. Aber ich glaube, das meint sie nicht ernst. Meine Mutter sagt manchmal Dinge, bei denen ich nicht wirklich weiß, ob es ein Spaß sein soll. Und mein Vater sieht das natürlich anders. Er hatte wohl im Büro mehrere Anfragen wegen dem Grundstück und es hätte ihm schon gefallen, einige davon anzunehmen. Da waren große Firmen dabei – für ihn hätte es eine dicke Provision gegeben und für die Stadt mehr Steuereinnahmen und Arbeitsplätze und so, sagt er.

Aber er konnte sie nicht annehmen. Er kann nämlich den Besitzer nicht finden und das regt ihn auf. Das einzige, was er weiß, ist, dass das Feld einer Frau Marianne Tischner gehört, aber niemand kennt die Frau. Diese Frau Tischner lebt hier nicht und niemand kann sich erinnern ob sie hier gewohnt hat und wohin sie gegangen ist. Deshalb ist er gerade wieder so wütend – wie jedes Mal, wenn er in der Zeitung von dem Grundstück liest. Die großen Konzerne sind in andere Städte in der Region gegangen. Gerade erzählt er zum Beispiel von einem großen Lebensmittelkonzern, der auch bei ihm angefragt hat und der nun ein Baugrundstück fünfzig Kilometer weit weg gekauft hat, weil mein Vater unseren Treffpunkt nicht verkaufen konnte.

Heute ist es besonders schlimm, heute regt er sich ganz besonders auf. Als er die Zeitung ein bisschen sinken lässt, sehe ich, dass sein Kopf knallrot ist. Meiner Mutter wird das wohl zu viel. Sie steht auf und fängt an, den Tisch abzuräumen. Dabei sieht aus dem Fenster und auf einmal frägt sie mich ganz beiläufig: „Hast du denn gestern das Vogelhäuschen aufgefüllt?“. Verdammt. Habe ich vergessen. Ich sage nichts, doch mein roter Kopf sollte Antwort genug sein. Wäre es zumindest, wenn meine Mutter zu mir sehen würde. Aber sie redet einfach weiter. „Irgendwie schon komisch, dass unser Vogelhäuschen ständig leer ist. Jeden Tag ist alles komplett aufgefressen – gierige Vögel, so etwas habe ich all die Jahre noch nicht gesehen.“

Nun kramt sie in der Dose, in der sie die selbstgemachten Vogelfutterringe aufbewahrt, nimmt einige heraus und geht ins Wohnzimmer zur Terrassentür. Scheinbar hat sie schon mitbekommen, dass ich vergessen habe, den Vögeln ihr Futter herzurichten, aber sie ist nun so gut gelaunt, dass es sie nicht stört. Auch gut. Doch dann hören wir einen gellenden Schrei aus dem Wohnzimmer. Er kommt von meiner Mutter. Mein Vater lässt seine Zeitung fallen, er springt auf und stürzt hinüber. Ich folge ihm auf dem Fuß.

Dort, im Wohnzimmer, vor der Terrassentüre, steht meine Mutter mit kreidebleichem Gesicht. Sie zeigt mit dem Finger nach draußen. Auf ihrem Finger sind die Futterringe aufgereiht, das sieht ziemlich skurril aus. Fast gleichzeitig kommen wir bei ihr an. Sofort blicken wir nach draußen, dorthin, wo meine Mutter zeigt. Neben dem Vogelhäuschen auf der Terrasse liegt eine Frau. Sie ist mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt, als ob sie jemand mit Puderzucker bestäubt hätte. Mein Vater schiebt meine Mutter zur Seite, um die Türe zu öffnen. Dann geht er hinaus zu der Frau und kniet sich neben ihr auf den Boden. Er greift ihr an den Hals. Einen Moment ist es ganz ruhig, dann dreht er sich zu meiner Mutter um und sagt: „Ruf die Polizei an, die Frau ist tot.“

Überraschenderweise habe ich keine Angst oder so. Dafür bin ich neugierig. Deswegen gehe ich zu meinem Vater und schaue die tote Frau an. Die erste Erkenntnis kommt schnell – ich kenne diese Frau. Das ist die Lumpenanni. Ich habe sie oft in der Stadt gesehen. Sie ist obdachlos, bettelt oder durchwühlt Abfalleimer nach Brauchbarem. Nun liegt sie auf unserer Terrasse und hat einen von Mamas Futterringen in der Hand.

Nach einer Weile kommt meine Mutter wieder. Sie tritt neben uns auf die Terrasse, teilt meinem Vater dabei mit, dass die Polizei auf dem Weg ist. Dann sieht sie sich zum ersten Mal die Frau an. „Oh mein Gott!“ Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie sich die Hand vor den Mund schlägt. Ihre Augen sind geweitet. Entweder hat sie erst jetzt so richtig verstanden, dass diese Frau tot ist oder sie ist wegen dem Futterring in ihrer Hand so entsetzt.

Zweiteres, erfahre ich kurz darauf. „Sie ist also diejenige, die ganzen Vogelringe klaut und isst!“ Na ja, jetzt wird sie wohl keine mehr essen. Trotzdem ist meine Mutter erschüttert. Sie murmelt noch etwas vor sich hin, das nach „Schrecklich…“ klingt. Doch dann reißt sie sich am Riemen. Sie legt ihre Hand auf meinen Rücken und schiebt mich wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich lasse es nur deshalb geschehen, weil es hier eh nichts mehr zu sehen gibt und weil es langsam draußen kalt wird. Soll doch mein Vater ganz stolz seinen Fund bewachen – auch wenn es da nicht viel zu tun gibt, die Frau wird wohl kaum weglaufen.

In der Küche hebt meine Mutter meine Schwester aus ihrem Stuhl – sie hat bis gerade eben ganz unbeeindruckt von der allgemeinen Aufregung in ihrer Müslischüssel herumgerührt. So verfrachtet sie uns beide in mein Zimmer. Mir gibt sie noch die Anweisung, auf meine Schwester zu achten und im Zimmer zu bleiben, dann läuft sie wieder nach unten. Immerhin fällt ihr im Türrahmen noch ein, dass wir fernsehen dürfen.

Kaum hat sie die Türe hinter sich geschlossen, stürze ich ans Fenster. Doch es bringt nichts – ich sehe weder auf die Straße, wo gleich Polizei und Konsorten anrücken sollten, noch auf die Terrasse, auf der die Leiche liegt. Schade. Also setze ich mich wieder neben meine Schwester, die vor sich hin brabbelt.

Wann habe ich die Lumpenanni zum letzten Mal gesehen? Meine Mutter hat ihr schon öfter mal einen Euro gegeben, das weiß ich noch. Sie hat die arme Frau immer bedauert, hat gesagt, wie schlimm es ist, wenn man im Alter arm ist. Es sei schrecklich, wenn man keine Familie hat und hungern muss, völlig allein und kein Zuhause. Ich habe die Lumpenanni erst vor einer Weile vor der Schule gesehen, fällt mir ein. Dort hat sie im Mülleimer nach alten Pausenbroten gesucht. Ich habe nicht hingeschaut, weil mir das echt peinlich war.

Auf einmal geht die Tür zu meinem Zimmer auf und meine Mutter streckt den Kopf herein. „Alles okay bei euch?“ Mein Blick huscht zum Wecker neben dem Bett. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Als ich ihre Frage bejahe, nickt sie zufrieden. „Kommt, wir gehen runter.“ Eigentlich richtet sich die Aufforderung nur an mich – meine Schwester nimmt sie auf den Arm. So gehen wir nach unten, kehren in die Küche zurück. Meine Schwester wird in ihrem Hochstuhl verfrachtet, ich nehme auf meinem Platz gegenüber von ihr Platz, während meine Mutter Kaffee macht.

Irgendwie bin ich gerade echt… erleichtert. Es ist gut, dass wir uns einfach so Kakao machen können – es ist gut, dass wir genug zu essen haben und nicht auf Vogelfutterdiebstähle oder ähnliches angewiesen sind.

Mein Vater kommt heute sehr früh nach Hause. Er ist ganz aufgeregt und will meiner Mutter erzählen, was passiert ist. Natürlich bleibe ich in ihrer Nähe und höre mit. Er musste mit zur Polizei und alles zu Protokoll geben. Eigentlich hatte er nicht viel zu erzählen, aber trotzdem hat das alles sehr lange gedauert. Immerhin ist es ja nicht normal, eine Leiche auf der Terrasse liegen zu haben.

Kurz bevor er gehen wollte, kam ein Polizist in den Raum gerannt. Er war völlig aus dem Häuschen und teilte umgehend mit, warum. Man hat herausgefunden, wer die Frau ist. Mein Vater machte eine Pause, um meine Mutter auf die Folter zu spannen. Doch das lässt sie sich nicht gefallen. „Jetzt sagt schon, wer war die Lumpenanni?“ Ganz kurz schaut mein Vater beleidigt, doch das Bedürfnis, uns alles mitzuteilen, ist stärker. Deshalb fährt er gleich fort.

Der Polizist erzählte also dem Kommissar, dass sie die Identität überprüft haben und festgestellt haben, dass die Lumpenanni in Wirklichkeit Marianne Tischner hieß.

Meiner Mutter klappt der Mund auf, sie starrt meinen Vater fassungslos an. „Das gibt es doch nicht… Der Frau gehört das riesige Grundstück mitten in der Stadt? Dann ist sie doch – war sie doch steinreich. Und ich habe der Frau hin und wieder einen Euro geschenkt! Einer Millionärin! Eine Millionärin, die meine Futterringe geklaut hat!“

Wir sehen uns alle an. Meine Mutter immer noch überrascht, mein Vater zufrieden, weil seine Neuigkeiten ein echter Knaller waren und ich… Ja, ich bin auch überrascht.

Dann können wir nicht anders. Wir prusten einfach los.

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Als mein Körper mich verließ

Manche Tage beginnen wie jeder andere. Mit einem flüchtigen Gedanken, einem zarten Lichtstreifen am Himmel oder einem vertrauten Geruch in der Luft. Nichts weist darauf hin, dass sich etwas verändern wird – dass der Tag mehr bereithält als die gewohnte Routine. Und doch… ist da dieses Gefühl. Es ist leise, kaum greifbar, ein winziges Flackern irgendwo tief im Inneren. Etwas stimmt nicht. Oder etwas stimmt zu sehr.

Wenn du je das Gefühl hattest, dass ein ganz gewöhnlicher Morgen sich plötzlich falsch – oder vielleicht auch vollkommen richtig – anfühlt, dann wirst du verstehen, was ich meine. Denn genau so hat es bei mir begonnen. Unauffällig. Fast still. Und dennoch unausweichlich.

Ich hätte es ahnen können. Vielleicht sogar müssen. Doch ich war wie benommen von der Schlichtheit des Moments – einem Moment, der sich in Wahrheit als Beginn von etwas Größerem entpuppen sollte.

Ich liebe geriebene Äpfel. Du auch?

Bisher habe ich meine Geschichte noch niemandem erzählt. Aber heute werde ich mein Geheimnis mit dir teilen. Bitte hüte es!

Meine Geschichte beginnt an einem Morgen. Ein ganz normaler Morgen, augenscheinlich. Ich wache zwar ziemlich plötzlich auf, doch das ist keinen äußeren Umständen geschuldet. Bis gerade eben habe ich tief und fest geschlafen, doch dann bin ich aufgewacht, einfach so.

Draußen dämmert es, das kann ich erkennen, wenn ich blinzle. Ich liege im Bett und bin hellwach. Nicht so, dass ich den Drang verspüre, aufzustehen. Mein Kopf ist wach, meine Gedanken klar, mein Gehirn arbeitet. Ich sträube mich dagegen, aufzustehen, aber meine Gedanken wollen nicht mehr schlafen.

Kennst du das, wenn man, gerade aufgewacht, schon Pläne für den Tag schmiedet? Meine Augen sind geschlossen, ich räkele mich unter meiner Decke. Ich fühle mich wohl. Schlafen will ich jetzt nicht mehr, also denke ich nach. Welcher Tag ist heute? Was steht an?

Ich muss zur Arbeit. Danach noch einkaufen, etwas Leckeres zu Abend essen. Dann noch Wäsche waschen und bügeln. Schritt für Schritt gehe ich meinen Tagesplan durch. Es steht nichts Außergewöhnliches an, ein ganz normaler Arbeitstag halt.

Apropos Arbeit… Ich drehe den Kopf zum Fenster, um nachzusehen, wie spät es wohl sein mag. Sicher läutet jeden Moment mein Wecker und das schöne Herumliegen hat ein Ende. Langsam öffne ich meine Augen. Doch es gelingt mir nicht, mich zu orientieren. Ich versuche, meine Augen noch weiter zu öffnen. Mein Blick geht zur Zimmerdecke.

Und dann…

Was ich dort sehe, schockiert mich bis ins Mark. Meinem Mund entfährt ein greller Schrei, der tief aus meinem Inneren kommt und fast schon unmenschlich, auf jeden Fall kaum nach mir klingt.

Über mir hängen in einer Reihe tote Schafe. Die Tiere wurden wohl an Stricken befestigt, soweit ich das sehen kann. Ich kann nicht aufhören zu schreien, bin starr vor Angst. Unfähig mich zu bewegen, liege ich dort und starre nach oben auf die sich nur sehr langsam bewegenden Tiere.

Ich fühle, wie meine Hose nass wird. Vor lauter Angst muss ich mir in die Hose gemacht haben. Langsam klingt der Schock ab und ich versuche, mich zu bewegen, aus dem Bett zu kommen – weg von dem Grauen in meinem Schlafzimmer. Es gelingt mir nicht. Meine Beine strampeln unbeholfen und so sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, meine Beine aus dem Bett zu bewegen.

Stattdessen versuche ich, mit den Händen die grausigen Tiere, die mich von oben beäugen, zu vertreiben. Doch meine Arme sind zu kurz. Ich bekomme die Schafe nicht zu fassen. Meine Hände wollen greifen, aber – was sind das für Hände? Die Hände sind klein, winzig klein. Für einen Moment verschlägt es mir die Stimme.

Doch dann schreie ich noch lauter als zuvor. Ich will einfach nur noch aufwachen aus diesem Albtraum!

Plötzlich öffnet sich die Türe und ein Riese tritt ein. Eine Frau, groß wie ein Baum, kommt herein und macht das Licht an. Sie sieht zu mir und sie… Sie geht auf mich zu. Schritt für Schritt macht sie in meine Richtung und mir wird klar, ich muss jetzt wirklich fliehen. Irgendwie.

Es geht nicht. Erst jetzt sehe ich, dass das Bett auf allen Seiten von Stäben umgeben ist, unglaublich hohen Stäben, höher als ich selbst. Ich kann nicht fliehen, ich bin gefangen. Wie komme ich hierher? Wo bin ich?

Die Riesenfrau hat nun mein Bett erreicht. Sie schiebt die gruseligen Schafe zur Seite, einfach so, ganz problemlos – kein Wunder bei diesen Armen. Doch die Erleichterung hält nur einen winzigen Moment an, denn dann lässt sie ihre Arme sinken und ich sehe, wie sich die gewaltigen Hände auf mich zu bewegen. Und wenn diese Hände gerade eben einfach so die Schafe beiseite gefegt haben, was können sie dann mit mir anrichten?

Ich versuche, noch lauter zu schreien. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren und mein Hals ist zugeschnürt vor Angst – ich kann nur schreien, Worte bringe ich keine hervor.

Die Frau greift nach mir, ich kann ihr nicht ausweichen. Dann hebt sie mich aus dem Bett, ganz mühelos, so, als wäre ich ein Püppchen. Sie hält mich vor ihr Gesicht – ihr Gesicht, das viel friedlicher wirkt als ihre Erscheinung. Sanft und leise spricht sie zu mir und meine Wahrnehmung von ihr ändert sich langsam.

Sie ist sehr freundlich, liebevoll und gefühlvoll. Allmählich fange ich an, mich zu entspannen.

Das hält nicht lange an. Die Angst ist größtenteils verschwunden, doch die Verwirrtheit hält sich wacker. Ich will wissen, wo ich bin, was passiert ist. Im Moment gibt es nur eine Person, die mir bei diesen Fragen weiterhelfen kann: Die Riesenfrau, die so einschüchternd wirkte und jetzt so vorsichtig mit mir umgeht. Sie kann mir vielleicht sagen, was hier los ist.

Doch als ich den Mund öffne, um ihr meine Fragen zu stellen, kommen nur lustige Blubberlaute heraus. Kurz lächelt die Frau, sie stupst mir mit einem Finger gegen die Nase. Dann rückt sie mich auf ihrem Arm zurecht, dreht sich um und trägt mich aus dem Zimmer.

Beim Verlassen kann ich einen Blick in mein Schlafzimmer erhaschen. Das ist nicht mein Zimmer. Das ist ein Kinderzimmer, ein Babyzimmer.

Wir gehen in ein anderes Zimmer. Es ist ein Wohnzimmer mit gemütlicher Einrichtung. Die Frau setzt sich auf einen der riesigen Stühle, die an einem Tisch in der Ecke stehen. Ich liege in ihren Armen und ich fühle mich dort… sicher. Ich fühle mich sicher.

Die Panik ist weg, die Angst ebenso. Und dann kommt ganz langsam die Erinnerung zurück. An die Nacht bei dichtem Schneefall, an den Krankenwagen. An die grellen Lampen im OP und die weiß bekittelten Leute, die um mich herum standen. Auch daran, sie sagen zu hören, dass es zu spät wäre.

Danach folgte Dunkelheit und ein sehr langer, sehr tiefer Schlaf.

Die Riesenfrau wiegt mich hin und her, sie hat angefangen, ein Lied zu summen. In ihrer Hand hat sie einen Plastiklöffel mit braunem Brei und diesen Löffel bewegt sie auf mich zu. Ich will nicht essen. Ich will jetzt reden – und ich habe viele Fragen.

Doch dann ist der Löffel in meinem Mund, ganz überraschend. Ich wehre mich, spucke den Brei aus. Aber der Geschmack bleibt. Süß und fruchtig, wunderbar frisch. Ich will mehr. Noch nie habe ich so etwas Feines gegessen. Es ist geriebener Apfel, das weiß ich.

Und jetzt freue ich mich auf den nächsten Löffel und auf den danach.

Meine Erinnerungen verblassen mit jedem Löffel. Warum nur habe ich so geschrien? Ich weiß es nicht mehr.

Was ich weiß, ist, dass ich diese Frau liebe und noch mehr von diesem wunderbaren Apfel essen möchte.

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Die stille Mission

Der Regen fällt unaufhörlich, verhüllt die Straßen und Menschen in ein feuchtes Grau. Zwischen den Tropfen huscht eine Gestalt, vorsichtig, fast heimlich – als trüge sie ein Geheimnis, das niemand erfahren darf. Der Schein der Straßenlaternen spiegelt sich in Pfützen, doch in dieser Dunkelheit zählt nur eines: der Inhalt einer kleinen Tüte. Eine Mission, unspektakulär für Außenstehende, doch für ihn ist es alles. Was genau sich darin verbirgt, bleibt verborgen – zumindest noch…

Es regnet. Natürlich tut es das. Es wäre ja ohne Regen nicht schon schwer genug gewesen, nach Hause zu kommen. Er packt seinen Plastikbeutel etwas fester und läuft los. Vorsichtig, so, dass er den Beutel nicht allzu sehr hin und her schüttelt. Schließlich will er keine Sauerei mit und in seiner Tüte machen.

Fast schon an die Hauswände gedrückt, läuft er durch die Stadt, begleitet von einem fast gleichmäßigen Platsch-Platsch-Platsch. Er versucht gar nicht erst, den Pfützen auszuweichen, läuft einfach hindurch. Dass seine Klamotten von Sekunde zu Sekunde nasser werden, ist ihm ebenfalls egal. Wichtig ist nur, dass er schnellstmöglich, sicher und ungesehen seinen Beutel nach Hause bringt. Da kann er sich dann auch umziehen.

Es ist schon dunkel. Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den Wasserlachen, hin und wieder wird das Spiegelbild gebrochen von Autos, die durch die Pfützen brettern. Doch für so etwas hat er gerade kein Auge. Seine Tüte und vor allem der Inhalt sind wichtiger.

Dann taucht endlich ein wohlbekannter grauer Block vor ihm auf. Es ist sein Wohnhaus – er ist zuhause. Also, fast. Nur noch eine Straße überqueren, dabei einem Auto ausweichen und die Tasche hinter sich halten… Danach steht er endlich vor seiner Haustüre.

Vorsichtig fischt er den Schlüssel aus seiner Tasche und schließt sie auf. Doch bevor er das Treppenhaus betritt, lauscht er hinein. Keine Geräusche. Nur weit entferntes Plaudern und Musik – also Geräusche von den Fernsehern im Erdgeschoss. Zufrieden nickt er, dann betritt er das Haus.

Blitzschnell huscht er hinüber zu den Lichtschaltern und deaktiviert die Bewegungsmelder. Ein schlechtes Gewissen hat er dabei nicht. Außer ihm ist um diese Uhrzeit niemand mehr im Haus unterwegs und morgen früh schaltet er sie wieder ein. So hat er Dunkelheit auf dem Weg zu seiner Wohnung. Dass das Licht im Eingangsbereich anging, konnte er nicht vermeiden, das musste er in Kauf nehmen, doch jetzt, wo es dunkel bleibt, gibt es kein Licht, das ihn verrät. Offensichtlich sieht man sonst in einigen Wohnungen einen Lichtstreifen, der unter der Türe hindurch in die Wohnung fällt.

Seine nächste Etappe ist das Treppenhaus. Treppe für Treppe huscht er nach oben, versucht, möglichst leise zu laufen und gleichzeitig seine Tüte davon abzuhalten zu rascheln. Im zweiten Stock verharrt er. Da war ein Geräusch! Ein viel zu nahes Geräusch. Und der zweite Stock ist gefährlich, dort wohnt Frau Müller, die zwar genauso belanglos ist wie ihr Name, aber ein verdammt gutes Gehör hat. Sie darf ihn nicht sehen, sie darf seine Tüte nicht sehen und vor allem darf sie nicht den Inhalt seiner Tüte sehen.

Er bleibt gut fünf Minuten einfach so stehen. Dann hört er sich entfernende Schritte. Was auch immer die Alte getan hat – ihre Garderobe neu sortiert? –, sie ist damit fertig und verschwindet aus der Gefahrenzone.

Erleichtert setzt er seinen Weg fort. Nur noch ein kleines Stück…

Als er endlich seine Wohnungstüre erreicht und es schafft, sie unbemerkt aufzusperren, würde er sich am liebsten direkt dahinter auf den Boden sacken lassen. Er hat es geschafft! Wieder einmal hat er sich durch die Stadt und vor allem durch seinen Wohnblock mit all den neugierigen Nachbarn gestohlen, ohne dabei erwischt zu werden – ohne dass jemand herausgefunden hat, was er dabei hat.

Apropos: Es ist der Beutelinhalt, der ihn davon abhält. Bevor er es sich bequem macht, muss er sich erst einmal darum kümmern.

Er streift seine Schuhe ab – die restlichen Klamotten sind später dran. Dann geht er hinüber in seine Küche. Dort stellt er die Tüte auf dem Küchentisch ab.

Jetzt ist es soweit. Endlich. Er holt eine silberne Schüssel heraus, nimmt den weißen Pappdeckel ab. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen bei dem Anblick des knusprig gebackenen Kürbiskuchen.

Sein Kuchen hat den Transport überstanden und keiner der Nachbarn hat es geschafft, ihm den Kuchen abzuluchsen.

Gelungene Mission, ganz klar.

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Ein leiser Abschied

Es gibt Momente im Leben, die alles verändern – Augenblicke, in denen ein scheinbar gewöhnlicher Tag zum Anfang von etwas völlig Neuem wird. Ein leerstehendes Haus, still und verlassen, wird zum Symbol für Freiheit, ein Versprechen auf Ruhe und Selbstbestimmung. Doch manchmal ist das Glück nur von kurzer Dauer. Manchmal lauert das Unvorhersehbare schon hinter der nächsten Tür, dunkler und bedrohlicher, als man je gedacht hätte.

Was der beste Tag meines Lebens war? Als ich mein Haus gefunden habe, ganz klar.

Mein Haus… Das trifft es gar nicht richtig. Klar, es ist mein Haus, aber… Es ist so viel mehr. Es ist Freiheit, es ist ein Traum, es ist… Alles.

Mein ganzes Leben lang habe ich mit meiner Familie zusammengelebt. Ich mag meine Familie, kein Thema, ich mag auch diese Verbundenheit, dass immer jemand für einen da ist… Aber ich mag es nicht, dass immer jemand für einen da ist. Nie hat man seine Ruhe, nie ist man alleine, überall wuselt es, man kann nichts tun, ohne dass einen die Tante fünften Grades dabei erwischt.

Als Kind war das ja vielleicht noch ganz lustig, weil wir Kleinen ein Spiel daraus gemacht haben, unentdeckt zu bleiben und weil einem die Tante fünften Grades gerne mal einen Keks zugeschoben hat, doch aus diesem Alter bin ich raus. Ich bin sowohl zu alt dafür, Verstecken zu spielen als auch dafür, von meinen Verwandten einen gütigen Blick und etwas zu essen zu bekommen. Leider. Also, das mit dem Essen.

Ich musste raus da. Das war mir klar. So richtig raus, nicht nur tagsüber. Was hilft einem das schon, wenn man sich tagsüber die Luft um die Nase blasen lässt, die Stille genießt und einfach für sich ist, wenn man abends zurückkehrt in sein lautes tobendes Heim? Wenn man sich dann die Vorwürfe anhören muss, weil man nicht genug mitbringt? Jeder hängt von jedem ab, jeder ist dazu verpflichtet, die Familie zu versorgen. All die Kinder, all die Alten… Ich verstehe es ja, wirklich. Was sollen sie sonst tun? Aber würde ich nur mich selbst versorgen, müsste ich mich nicht so aufarbeiten. Und ich würde abends in ein ruhiges Zuhause kommen.

Ja, das waren meine Gedanken, für eine sehr lange Zeit. Aber was will man schon tun? Lieber eine überbevölkerte Wohnung als gar kein Dach über dem Kopf, und das war meine einzige Alternative. Schöne Häuser oder Wohnungen sind rar und die, die es gibt, sind schon bewohnt. Die nicht so schönen auch.

So war das bis zum besten Tag meines Lebens.

Und dann kam er eben, der beste Tag meines Lebens. Ich war gerade querfeldein unterwegs, weil ich mich um die Versorgung meines Familienclans gekümmert habe und dann stand es da einfach. Leer, unbewohnt. Ideal für mich. Ich war so unglaublich glücklich. Ich musste zuschlagen.

Es ist meines. Dieses Traumhaus, so unglaublich groß, so leer, so ruhig – es ist alles, was ich mir je gewünscht habe. Und es ist mein neuer Lebensmittelpunkt. Ich bin sofort eingezogen, auch wenn ich dort erst einmal gar nichts hatte. Hauptsache weg von zuhause! Da habe ich es gerne in Kauf genommen, dass ich auf dem nackten Boden schlafen musste. Immerhin hatte ich ihn für mich alleine und musste ihn nicht mit einer Handvoll Verwandten teilen, von denen einer schnarcht, einer hustet, einer meckert herum, weil er nicht schlafen kann…

Boden ist ganz wunderbar, wirklich.

Das Haus war mein großes Projekt. Ich bin in letzter Zeit echt abgemagert, weil ich wirtschaften musste – jetzt, wo nicht mehr meine Familie auf mich wartete, konnte ich alles so einteilen wie ich wollte, und Zeit und Ressourcen gingen für das Haus drauf. Jedes Mal, wenn es sich angeboten hat, habe ich Baumaterialien mitgenommen, habe mein Haus auf Vordermann gebracht… Und es hat geklappt. Es wurde noch perfekter.

Kein nackter Boden mehr, auch kein Gemeinschaftsraum mehr, sondern ein traumhaft ausgepolstertes Schlafzimmer. Kein Speiseraum, in dem sich die ganze Verwandtschaft tummelt, sondern eine ordentlich gefüllte Speisekammer nur für mich. Kein Geschrei mehr, sobald man durch die Haustüre kommt, sondern eine riesige Eingangshalle, in der kein Körnchen Staub und erst recht kein Dreck liegt – abgesehen von allem Verwertbaren, das beim Ausbau des Hauses anfällt – in der sich das Licht spielt, das durch die ebenfalls riesige Türe strahlt.

Ich kann sogar von zuhause aus arbeiten. Es ist genau so, wie ich es mir gewünscht habe – und besser.

Ja, das war es. Bis mir die riesige Türe zum Verhängnis wurde.

Also gerade eben. Ich war nichtsahnend in der Eingangshalle, wollte einfach nur die Aussicht genießen. Die Pause habe ich mir verdient, fand ich, nachdem ich die letzten Stunden meine Kürbiskernvorräte hin und her geschleppt habe.

Aber dann hat mir etwas die Sicht versperrt. Etwas sehr Großes, Dunkles, das sich durch die Türe geschoben hat. Dieses Etwas hat in der Eingangshalle herumgetastet und da hat es nicht mehr geholfen, dass ich mich gegen die Wand gedrückt habe – es hat mich erwischt und mich nach draußen gezerrt.

Und da bin ich jetzt. Mit perfekter Sicht auf die strahlend orangefarbenen Wände meines geliebten Hauses, das viel zu kurz mein Zuhause war. Sie werden immer kleiner.

Quasi seit ich auf die Welt kam, haben sie uns vor Katzen gewarnt und verdammt, ich war immer vorsichtig. Ich hätte nie geahnt, dass mein Auszug – und mein Leben – damit endet, dass ich im Maul einer Katze baumle.

Schade.
Das Haus war wirklich schön…

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Ein letzter Kunde

Kunde ist nicht gleich Kunde, und nicht jeder Besuch verläuft so, wie man es erwartet. Manchmal führen Aufträge an Orte, die auf den ersten Blick unscheinbar wirken – doch hinter der Fassade lauert etwas Unerklärliches. Wenn die Dunkelheit näher rückt, werden aus einfachen Häusern Schatten, und vertraute Dinge scheinen sich zu verwandeln. Genau hier beginnt eine Geschichte, in der nichts so ist, wie es scheint, und jeder Schritt eine neue Frage aufwirft. Ein Auftrag, der mehr ist als nur ein Geschäft, und dessen Ende niemand vorhersehen kann.

Fred mag seinen Job. „Staubsaugervertreter“ klingt vielleicht nicht besonders edel, aber für ihn ist es genau der richtige Job. Nicht etwa, weil er Staubsauger so toll findet oder so gerne mit Menschen zu tun hat – für ihn ist der große Vorteil seiner Arbeit die freie Zeiteinteilung. Er kann selbst bestimmen, wann und wie viel er arbeitet. So bleibt genügend Zeit für seine Hobbys und das steht für ihn ganz klar über einem hohen Verdienst oder großem Erfolg.

Seine Hobbys, das sind Laufen und Wandern. Er ist unglaublich gerne in der Natur und immer wenn das Wetter gut ist, zieht es ihn nach draußen. Da kommt ihm ein Job mit freier Einteilung natürlich sehr entgegen. Der erfolgreichste Mitarbeiter der bekannten Staubsaugermarke ist er nicht unbedingt. Fred setzt sich monatlich ein Pensum, das er – notgedrungen – abarbeiten will, das erreicht er immer. Aber meistens auch nicht mehr. Wenn gegen Ende des Monats absehbar ist, dass er das von sich selbst gesetzte Ziel erreicht, nimmt er sich eben mehr Freizeit. Reich wird er damit nicht, das ist klar. Doch sein Verdienst ist für ihn völlig ausreichend.

Fred ist genügsam. Seine Wohnung ist klein und sehr spärlich eingerichtet, aber was kümmert ihn schon seine Wohnung, wenn er doch sowieso viel lieber draußen ist? Für seine Zwecke ist sie völlig ausreichend, er braucht keinen Luxus. Fred ist mit seinem Leben zufrieden, er denkt, er hat seinen Weg gefunden – einen Weg, der ihn glücklich macht. Das einzige, was er schade findet, ist, dass er keine Partnerin hat. Doch er gibt die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages eine Frau findet, die seine Interessen teilt und ihn versteht.

Diesen Monat geht sein Plan allerdings nicht ganz auf. Der Oktober hat nur noch wenige Tage und sein Umsatzziel, das ihm eine ausreichende Provision gewährt, ist noch nicht erreicht. War kein guter Monat – zumindest, was die Arbeit angeht. Bezogen auf die Freizeit war es ein richtig guter Monat und das erklärt seinen Rückstand. Statt durch die Gegend zu ziehen und Staubsauger zu verkaufen, hat er diesen Monat besonders viele Wanderungen gemacht. Das Wetter war hervorragend, das musste er ausnutzen – arbeiten kann er ja auch, wenn schlechtes Wetter ist, findet er. Das muss er nun aufholen. Nun muss er dafür büßen, dass es diesen Monat kaum Tage mit schlechtem Wetter gab.

Eigentlich ist es ganz einfach. Wenn er ein paar große Deals abwickelt, kann er wieder ruhig schlafen. Und das, ohne viel tun zu müssen. Zumindest ein paar neue Kunden gewinnen… Bis jetzt sieht es allerdings schlecht aus. Die erhofften dicken Fische, die ihm auf der Stelle den Monat retten, bleiben aus, seine heutigen Verkäufe beschränken sich auf einige Staubsaugertüten und eine Spezialdüse zum Absaugen von Vorhängen. Ihm würde es ja schon reichen, wenn er eines oder mehrere Basis-Geräte verkauft – wenn es sein muss, auch ohne Zubehör.

Wenn ein Kunde einen neuen Staubsauger kauft, dann ist der Verkauf von Zubehör ein Kinderspiel. Fred braucht diese Kunden nur in regelmäßigen Abständen zu besuchen und weitere, kleine Aufträge laufen ohne Anstrengung und wie von alleine auf sein Plus-Konto ein. Der Zeitdruck hilft ihm, ausnahmsweise den Ehrgeiz, den er beim Sport hat, auf die Arbeit zu übertragen. Heute wird er mindestens einen neuen Kunden akquirieren, das ist sein Tagesziel. Und wie im Sport gibt er da nicht auf dem Weg auf – ein Umkehren, bevor er den Gipfel erreicht hat, kommt für ihn nicht in Frage. Auch dann nicht, wenn der Gipfel heute ein Sinnbild für einen neuen Kunden ist.

Schon seit dem frühen Morgen ist er unterwegs. Und da sein Hauptgebiet nichts abgeworfen hat, hat er sich auf den Weg zu einer Neubausiedlung gemacht, die etwas weiter weg ist. Er braucht dringend Frischfleisch und er hofft darauf, dass die Bewohner der neu gebauten Häuser ein Bedürfnis nach Staubsaugern haben, das er natürlich gerne stillt. Hier gibt es neben einigen, kleinen Mehrfamilienhäusern Reihenhäuser und auch Einfamilienhäuser. Eigentlich eine sehr gute Mischung. Da muss doch etwas gehen!

Doch schon die Hauptstraße des Wohngebietes stellt sich als Fehlschlag heraus. Teilweise wird ihm nicht einmal die Türe geöffnet und die Frauen, die sich ein bisschen mit ihm unterhalten, überzeugt er offensichtlich nicht. Keine einzige lässt ihn in die Wohnung und er kann kein richtiges Verkaufsgespräch führen. Verdammt demotivierend.

Doch Fred lässt sich seine Motivation nicht nehmen. Er denkt daran, wie er die letzten Tage des Oktobers nutzen könnte, wenn er es schaffen würde, jetzt noch ein paar Verkäufe abzuwickeln. Nichtsdestotrotz ist er so entmutigt, dass es ihn inzwischen sogar schon aufmuntern würde, wenn er auch nur einen Staubsaugerbeutel verkaufen würde. Allmählich zweifelt er an seinen Verkaufskünsten und die hat er bis heute als ziemlich solide angesehen. Nichts Besonderes, aber völlig ausreichend.

Er klappert also die Straßen weiter ab, setzt bei jeder Haustüre wieder sein gewinnendes Lächeln auf und ist bereit für den nächsten Auftrag. Doch auch die anderen Straßen sind enttäuschend. Vor der letzten Straße muss er kurz innehalten. Inzwischen hat schon die Dämmerung eingesetzt und er wäre gerne woanders. Seine Runde um den Block laufen, etwas zu Abend essen, Hauptsache, er muss nicht mehr von Türe zu Türe wandern. Bald. Nur noch eine Straße.

Fred streckt sich, dann geht er auf die verbleibende Straße zu. Doch dann hält er überrascht inne. Hier hinten, außer Sichtweite der Hauptstraße, am Waldrand, hat die Baugesellschaft offensichtlich versucht, Kosten zu sparen. Die Gleichförmigkeit ist erschlagend – es wirkt, als hätte man gar nicht erst einen Architekten bemüht, sondern einfach einen Hausplan dupliziert. Wie eine Armee von rotbedachten Betonblocks sind die Häuser an der Straße aufgereiht, jedes umgeben von einem Gitterzaun, darin vorne an exakt der gleichen Stelle eine Türe, flankiert von zwei Betonsockeln. Und an jedem linken Sockel ist Klingel und Briefkasten eingelassen.

Aber nicht nur das ist einheitlich. Viel verwunderlicher, ja, richtig gruselig, ist, dass auf jedem Sockel über der Klingel ein geschnitzter, oranger, großer Kürbiskopf thront. Eine Reihe, fast wie mit dem Lineal gezogen, von Kürbissen mit Gesichtern, durch die man das Flackern von Kerzen sieht. Jedes Haus, jeder Zaun, jeder Kürbis identisch, die ganze Straße entlang. Und als wäre das nicht schon schaurig genug, kommen noch die flackernden Kerzen in den Kürbissen dazu. Kommt im Dämmerlicht besonders gut.

Okay, Augen zu und durch. Das sind Kürbisse, mehr nicht – und dass Neubaugebiete immer unpersönlicher werden, ist ja eine allgemeine Entwicklung, keine Besonderheit dieses Ortes. Immerhin hatten die Leute in der Hauptstraße Glück und wurden von dieser Eintönigkeit verschont.

Fred schiebt seine Tasche auf seiner Schulter zurecht, dann geht er hinüber zur ersten Türe. Bevor er klingelt, mustert er noch den Kürbis. Ein wirklich schauriger Bursche und soweit Fred das beurteilen kann, sehr kunstvoll geschnitzt. Denn neben Augen und Mund hat dieser Kürbis einige fast menschliche Züge. Durch die Augen strahlt das flackernde Feuer der Kerze.

Plötzlich zuckt Fred zusammen. Die Mimik des Gesichts hat sich doch eben geändert! Der Kürbis sieht ihn an. Bis gerade eben ging sein „Blick“ ins Leere, doch jetzt mustert er Fred. Und sein Blick ist dabei nicht etwa neugierig – er ist feindselig. Okay, ruhig bleiben. Da spielt ihm doch garantiert nur das Licht einen Streich. Am liebsten würde er laut lachen, die Sorge einfach weglachen, doch das kommt vor der Türe eines zukünftigen Auftraggebers nicht unbedingt gut.

Als er sich wieder auf seine Aufgabe – erst klingeln, dann einen Staubsauger verkaufen – konzentrieren will, kriecht ihm ein Schauer über den Rücken und seine Kehle schnürt sich zu. Irgendetwas ist hier… Langsam dreht er sich um. Und diesmal kann es nicht nur das Licht sein – die Augenpaare aller Kürbisse in dieser Straße sind auf ihn gerichtet. Sie gaffen ihn an. Inzwischen leuchtet das Licht der Kerzen in der Dunkelheit rötlich.

Ruhe bewahren, irgendwie Ruhe bewahren. Es klappt nicht wirklich, doch Fred reißt sich zusammen und ertastet mit zitternden Fingern den Klingelknopf. Er wagt es nicht, seinen Blick von dem Kürbiskopf vor ihm zu nehmen. Ein dunkles „Dong“ ertönt aus dem Haus, als er den Knopf drückt. Und für einen Sekundenbruchteil fühlt es sich an wie eine Erlösung. Allerdings wirklich nur für einen Sekundenbruchteil.

Fred zwinkert kurz und auf einmal ist das Kürbisgesicht vor ihm zu einer Fratze verzerrt. Nicht gut, gar nicht gut. Jetzt ist Fred sich endgültig sicher, dass nicht etwa die Kerzen merkwürdige Schatten werfen – nun dringen nämlich die Flammen aus den Augenlöchern. Fred ist erstarrt. Immer noch mit dem Finger auf der Klingel starrt er den Kürbiskopf vor sich an, er zittert am ganzen Leib. Und den Blick kann er partout nicht abwenden.

Er starrt in die lodernden Augen und dann… Ganz langsam weichen die Gedanken aus seinem Kopf, die Erinnerungen verblassen. Fred versucht krampfhaft, sie festzuhalten, doch es klappt nicht. Was tut er hier? Dann zuckt ein Gedanke durch seinen Kopf. Laufen, er muss Laufen. Weg hier, einfach nur weg. Seine Tasche gleitet an seiner Schulter herunter, er hält sie nicht davon ab. Im Gegenteil – froh, den Ballast losgeworden zu sein, dreht er sich um und – läuft.

Läuft los, läuft die Straße hinunter. Immer schneller und die Erinnerungen an die Kürbisse verblassen langsam, machen einem Glücksgefühl Platz. So schnell wie noch nie, so glücklich wie noch nie, läuft er die Straße entlang und in seinen Augen lodert ein Feuer.

Dann erfasst ihn ein Auto. Fred wird durch die Luft geschleudert. Er ist schon tot, bevor er auf dem Boden aufkommt.

Als Mary die Türe öffnet, runzelt sie verwundert die Stirn. Niemand steht an der Gartentüre, die Straße ist leer. Dabei hat sie sich gar nicht so viel Zeit gelassen… Gut, sie hat noch schnell den Topf vom Herd genommen, bevor sie zur Türe gegangen ist, aber das hat nicht besonders lange gedauert. Na ja, offensichtlich so lange, dass der Gast wieder verschwinden konnte. Und wenn er nicht warten konnte, war es wohl auch nichts Wichtiges.

Sie zuckt mit den Schultern und schließt die Türe wieder. Bevor sie sich den Kopf über so eine Kleinigkeit zerbricht, kümmert sie sich lieber um wichtige Dinge. In der Küche wartet eine frisch gekochte Suppe auf sie. Mary nimmt wieder ihr Messer in die Hand und hackt die Blätter, die auf ihrem Brett liegen – als sie vom Klingeln unterbrochen wurde, war sie gerade dabei, den Koriander zu zerkleinern.

Ja, das ist jetzt wichtig. Ihre Familie und einige neue Freunde aus der Nachbarschaft warten schließlich auf ihre Suppe. Sie lieben Kürbisse und die Kürbisse passen auf alle Freunde in der Straße auf.

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Die Kinder von Mills

Nicht alle Türen führen einfach nur in Wohnungen – manche öffnen sich zu Geschichten, die besser ungesagt bleiben. Mrs Everett kennt sie alle: die Schlüssel, die Schlösser, die Bewohner – und die Schatten, die in dunklen Ecken auf neue Gäste warten. Die Legende von Mills ist keine bloße Erzählung, sie ist ein leiser Hauch, der jedes Jahr zu Halloween zurückkehrt. Manche Gäste bleiben. Andere verschwinden spurlos. Und wieder andere… kehren nie wirklich zurück.

Mrs Everetts Finger tasten den Schlüsselbund ab. Sie hat unglaublich viele Schlüssel, trotzdem schafft sie es auf Anhieb, den richtigen Schlüssel zu finden.

Neben ihr vor der noch verschlossenen Wohnungstüre steht Mona, die neue Bewohnerin der Wohnung. Sie hält ein Glas mit eingelegtem Kürbis – das ist Mrs Everetts Willkommensgeschenk für neue Mieter. Nettes Mädchen, findet Mrs Everett. Ein aufgewecktes, freundliches Gesichtchen, schulterlange, ordentliche, braune Haare, ein adrettes Wollkleid.

Auf dem Weg hierher haben sie sich schon ein bisschen unterhalten und Mrs Everetts Eindruck hat sich bestätigt. Mit strahlenden Augen hat Mona von sich erzählt, davon, dass sie Grundschullehramt studiert und dass sie in ihrer Freizeit gerne fotografiert. Ganz bezaubernd, wirklich.

Mrs Everett sperrt die Türe auf, sie treten in die Wohnung. Die Wohnungsbesichtigung geht recht schnell über die Bühne – viel zu sehen gibt es nicht, die Wohnung ist nicht groß. Mona nimmt alles genau unter die Lupe, sie überprüft den Zustand der vorhandenen Möbel. Scheint alles zu ihrer Zufriedenheit zu sein.

Nach einigen Stichproben dreht Mona sich zu Mrs Everett um, ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. „Also, es bleibt dabei: Ich würde gerne hier einziehen.“ Auch Mrs Everett lächelt. Sie streckt Mona ihre Hand entgegen, das Mädchen versteht sofort. Erleichtert ergreift sie die Hand und schüttelt sie. „Dann darf ich dich als meine neue Mieterin begrüßen.“

Die Erleichterung hält nur einen kurzen Moment an, dann ist Monas Geschäftigkeit zurück. „Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?“

Damit beginnt der zweite Teil der Führung. Mrs Everett erklärt der interessierten Studentin, wie die verschiedenen Gerätschaften in der Küche zu bedienen sind, was sie in Problemfällen tun kann und an wen sie sich wenden kann. Mona saugt alles in sich auf. Sie macht sich ein paar Notizen und hört aufmerksam zu.

Dann hat Mrs Everett alles erklärt, was es zu wissen gibt. Fertig ist sie jedoch nicht. Und ihr kurzes Zögern bringt Mona, die schon ihr Gepäck aus ihrem Auto holen wollte, dazu, inne zu halten.

„Es gibt noch etwas.“

Mona runzelt die Stirn. Scheinbar hat sie sich eine mentale Liste gemacht mit wissenswerten Dingen – dort hat sie alles abgehakt, was Mrs Everett ihr erzählt hat und die anderen Dinge hat sie erfragt. Für sie war die Liste erledigt. Tja, das, was Mrs Everett ihr noch erzählen muss, hat nichts mit der Wohnung an sich zu tun.

„Weil ja bald Halloween ist… Es gibt hier eine Legende.“

Wieder lächelt Mona. Offensichtlich erwartet sie eine niedliche kleine Geschichte, aber da muss Mrs Everett sie enttäuschen. Niedlich ist die Legende nämlich nicht, überhaupt nicht.

„Die Legende von Mills. Vor einigen Jahren an Halloween ging eine Gruppe Kinder verloren. Sie waren beim Süßigkeiten sammeln, zogen von Haus zu Haus, wie viele andere Kinder auch. Aber dann waren sie plötzlich weg. Die Frau, die sie als letztes gesehen hat, hat nichts Ungewöhnliches bemerkt – sie hat ihnen die gewünschten Süßigkeiten gegeben, hat dann noch gesehen, wie sie zum nächsten Haus weiter gezogen sind. Aber sie sind niemals dort angekommen.“

Nun ist Monas Lächeln verschwunden. Sie hat die Hand vor den Mund geschlagen, ihr Blick ist mitleidig. Eine weitaus angemessenere Reaktion.

„Doch die Legende ist dort nicht zu Ende. Die Kinder sind nämlich nie wieder aufgetaucht. Zumindest nicht so richtig. Jedes Jahr an Halloween sieht man eine Gruppe Kinder durch die Straßen laufen. Diese Kinder tragen einfache Kostüme, wie sie vor einigen Jahren üblich waren. Sie sind immer einige Meter von einem entfernt – egal, wo man gerade ist, wenn sie auftauchen, sie sind immer am anderen Ende der Straße.“

Kurz hält sich Monas schockierter Blick, doch dann wird sie plötzlich ganz sachlich. „Warum geht niemand mal einfach hin zu ihnen? Vielleicht waren es in den ersten Jahren tatsächlich diese Kinder? Vielleicht gibt es einen Verbrecher, der… Der Kinder entführt und sie an Halloween dazu zwingt, durch die Straßen zu ziehen?“

Mrs Everett lächelt traurig, sie schüttelt den Kopf. Mona mag zwar ein aufgewecktes Mädchen sein, aber das hilft bei einem übernatürlichen Phänomen nicht weiter.

„In einem Jahr ist ein Hund zu den Kindern gerannt. Seitdem werden sie von einem Hund begleitet.“

Mona ist immer noch skeptisch, das sieht sie sofort. Ist auch ein bisschen nachvollziehbar, muss Mrs Everett zugeben. Doch jetzt ist sie gewarnt und wenn sie die Geistergruppe sieht, sieht, dass sie wirklich existiert, wird sie sich an ihre Worte erinnern.

Mrs Everetts Finger tasten den Schlüsselbund ab. Sie hat unglaublich viele Schlüssel, trotzdem schafft sie es auf Anhieb, den richtigen Schlüssel zu finden.

Neben ihr vor der noch verschlossenen Wohnungstüre steht Logan, der neue Bewohner der Wohnung. Er hält ein Glas mit eingelegtem Kürbis – das ist Mrs Everetts Willkommensgeschenk für neue Mieter. Netter Junge, findet Mrs Everett. Ein sanftes Dauerlächeln auf den vollen Lippen, braune, freundliche Augen, die mitlächeln und mit seinem Anzug ist er wirklich hinreißend.

Auf dem Weg hierher hat sich herausgestellt, dass er ein eher schweigsamer Zeitgenosse ist, doch er hat Mrs Everetts Fragen geduldig und freundlich beantwortet. Ganz bezaubernd, wirklich.

Mrs Everett sperrt die Türe auf, sie treten in die Wohnung. Die Wohnungsbesichtigung geht recht schnell über die Bühne – viel zu sehen gibt es nicht, die Wohnung ist nicht groß. Logan zieht es in die Küche, dort mustert er den Herd, die Mikrowelle und den kleinen Kühlschrank. Dann wendet er sich wieder Mrs Everett zu. Sein Lächeln ist etwas unsicher.

„Na, wie gefällt dir die Wohnung?“

„Sie ist wirklich sehr schön.“

Auch Mrs Everett lächelt. Ihr Lächeln wirkt beruhigend, hofft sie. Sie streckt Logan ihre Hand entgegen. „Dann darf ich dich als meinen neuen Mieter begrüßen?“

Logans Antwort erfolgt nonverbal. Erleichtert ergreift er die Hand und schüttelt sie. Als keine weiteren Einwände von Logan kommen, geht Mrs Everett zum zweiten Teil der Führung über.

Sie erklärt dem stummen, aber aufmerksamen Logan, wie die verschiedenen Gerätschaften in der Küche zu bedienen sind, was er in Problemfällen tun kann und an wen er sich wenden kann. Logan nickt immer wieder, zeigt ihr so, dass er zuhört und versteht.

Dann hat Mrs Everett alles erklärt, was es zu wissen gibt. Fertig ist sie jedoch nicht. Sie muss Logan nicht dazu bringen, stehen zu bleiben – er verharrt vor ihr, so, als würde er erst dann gehen, wenn sie ihm ihr Okay dafür gibt.

„Es gibt noch etwas.“

Wieder ein Nicken. Logan ist bereit.

„Wegen Halloween… Es gibt hier eine Legende.“

Mrs Everett sieht die Verwirrung in Logans Gesicht. Vermutlich rätselt er darüber, was eine Legende mit der Wohnungsführung zu tun hat und ist nur zu schüchtern oder höflich, um nachzufragen. Es muss sein, sie muss diese Legende erzählen. Erst recht nach der letzten Führung durch diese Wohnung.

„Die Legende von Mills. Vor einigen Jahren an Halloween ging eine Gruppe Kinder verloren. Sie waren beim Süßigkeiten sammeln, zogen von Haus zu Haus, wie viele andere Kinder auch. Aber dann waren sie plötzlich weg. Die Frau, die sie als letztes gesehen hat, hat nichts Ungewöhnliches bemerkt – sie hat ihnen die gewünschten Süßigkeiten gegeben, hat dann noch gesehen, wie sie zum nächsten Haus weiter gezogen sind. Aber sie sind niemals dort angekommen.“

Keine Reaktion von Logan. Er hört aufmerksam zu, sein Blick ist etwas betroffen, aber er scheint nicht weiter zu hinterfragen, warum Mrs Everett ihm das erzählt.

„Doch die Legende ist dort nicht zu Ende. Die Kinder sind nämlich nie wieder aufgetaucht. Zumindest nicht so richtig. Jedes Jahr an Halloween sieht man eine Gruppe Kinder durch die Straßen laufen. Diese Kinder tragen einfache Kostüme, wie sie vor einigen Jahren üblich waren. Sie sind immer einige Meter von einem entfernt – egal, wo man gerade ist, wenn sie auftauchen, sie sind immer am anderen Ende der Straße.“

Wieder hält sie inne, wartet eine Reaktion Logans ab. Es kommt wieder keine und so kann sie direkt zu ihrer Botschaft springen.

„Du darfst nicht zu ihnen gehen, okay? Wenn du an Halloween eine Gruppe Kinder, die von einem Hund und einer jungen Frau mit Fotoapparat begleitet wird, siehst, darfst du nicht zu ihnen gehen.“

Die Erinnerungen kommen wieder hoch. Daran, wie sie vor wenigen Tagen, an Halloween, diese Gruppe gesehen hat – und kurz darauf ihre neue Mieterin, die mit ihrem Fotoapparat in den Händen auf die Gruppe zulief.

Mrs Everett schluckt, sie versucht, die Tränen herunter zu schlucken. Energisch packt sie Logans Hände und drückt sie. „Versprichst du mir das?“

Logan ist überrascht von ihrer Eindrücklichkeit, das ist deutlich. Doch dann nickt er ganz langsam.

„Okay.“ Seine Stimme ist leise, aber bestimmt.

Und Mrs Everett atmet erleichtert aus. Er wird sein Versprechen nicht brechen, das spürt sie.

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Nur das Beste für meine Babys

Wenn der Nebel sich über die Hügel senkt und der Wind den Duft von verbrannten Kräutern durch die Bäume trägt, wissen die Tiere im Wald: Es ist wieder Brautag in Andromedas Hütte. Dort, wo das Feuer nie ganz erlischt, wo Kessel flüstern und Flaschen gluckern, lebt eine Frau mit runzligem Gesicht und klarem Ziel – sie braut nicht für Menschen, sondern für Wesen, die den meisten längst nur noch aus Märchen bekannt sind. Und wenn das Knirschen ihrer Räder durchs Unterholz hallt, wissen sie: Es gibt heute etwas ganz Besonderes.

Scharfer Geruch erfüllt Andromedas Hütte, die Hitze ist erdrückend. Es ist wieder Brautag.

Mitten in ihrer kleinen Hütte hat Andromeda ein Feuer entfacht. Darüber hängt ein Kessel, den sie mithilfe einer Kette an der Decke befestigt hat. Immer wieder huscht die kleine, bucklige Frau herbei, rührt mit dem riesigen Kochlöffel darin herum, wirft eine Handvoll Kräuter hinein. Im Kessel kocht eine zähe Masse vor sich hin, sie ist breiartig. Und jedes Mal, wenn Andromeda einen Blick hinein wirft, kichert sie. Es klingt hämisch.

Gleichzeitig arbeitet Adromeda an der Arbeitsplatte, die sich an einem großen Stück der Küchenwand entlang zieht. Dort liegen mehrere Schneidebretter, Messer in allen Größenordnungen, außerdem einige Gläser, Flaschen, Töpfe mit unterschiedlichen Flüssigkeiten. Sie gießt um, gibt weißes Pulver hinzu, schüttelt, schöpft ab. Und gleichzeitig betreut sie den Kessel.

Dann wischt sie ihre knorrigen dünnen Finger an ihrem Rock ab. Sie grinst zufrieden, man sieht ihre gelblichen, weit auseinander stehenden Zähne.

„Nur das Beste für meine Babys!“

Sie geht zurück zur Arbeitsplatte, nimmt sich eine der dort stehenden Flaschen und entkorkt sie. Mit weiterhin zufriedenem Grinsen schnüffelt sie daran, dann verzieht sie ihr Gesicht. Kurz schüttelt sie sich, bevor sie nickt und den Korken wieder in die Flasche steckt.

Diese und weitere Flaschen packt sie in eine Tasche, danach holt sie aus der Ecke einen zusammengeklappten Wagen, den sie entfaltet und auf welchen sie den Kessel wuchtet. Dabei verschüttet sie etwas des darin befindlichen Breis – der Klecks fällt direkt auf die Flammen und löscht somit das Feuer.

Ihr Blick wird für einen Moment leidend, es tut ihr leid, etwas von der sorgsam zubereiteten Speise verloren zu haben. Aber da damit das Feuer gelöscht wurde und sie sich also einen Arbeitsschritt gespart hat, zuckt sie nur mit den Schultern und das Missgeschick ist vergessen.

Andromeda schnappt sich die Tasche, in der die Flaschen gegeneinander klirren, umfasst den Griff des Wagens und wuchtet ihn über die Türschwelle nach draußen. Nun kehrt auch ihr Grinsen zurück, kurz lacht sie sogar – ein hämisch klingendes Lachen.

Draußen schiebt sie den Wagen über Stock und Stein, immer schön vorsichtig, damit nicht noch mehr verloren geht. So führt sie ihr Weg zu einem Gatter, das sie öffnet. Schnell schiebt sie ihren Wagen hindurch und schließt das Tor sorgsam hinter sich.

„Wo seid ihr denn, meine Hübschen?“

Es ertönt ein Klackern, ein Schnauben. Als hätten sie Andromeda gehört und verstanden, nähern sich mehrere weiße Pferde an.

Nicht irgendwelche weißen Pferde. Ihr Fell ist so unglaublich weiß, dass der Anblick fast schon blendet und wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass es funkelt. Ebenso wie das weiße, gedrehte Horn auf der Stirn jedes Pferdes.

Andromedas Blick wird sanft. Sie lässt den Wagen los, lässt ihre Tasche behutsam von ihrer Schulter auf den Boden gleiten. Dann nähert sie sich dem ersten Einhorn. Es kommt ihr ein paar Schritte entgegen, sie bleiben voreinander stehen.

Andromeda streckt ihre Hand aus und tätschelt seine Schnauze. Leise brummt sie etwas vor sich hin, es ist unverständlich, aber es klingt sehr liebevoll und das merkt auch das Tier. Es presst seinen Kopf fester gegen Andromedas streichelnde Hand.

Nach einer kurzen Streicheleinheit macht Andromeda mehrere Schritte zurück, bis sie wieder bei ihrer Tasche angekommen ist. Sie öffnet sie und nimmt eine der Flaschen heraus. Das Einhorn, das sie gerade eben gestreichelt hat, folgt ihr.

Wieder streicht sie über seine Schnauze, ihre Hand wandert danach in die Mähne des Tieres. Sie greift prüfend hinein.

„Ja, es ist wieder höchste Zeit.“

Andromeda entkorkt die Flasche und gibt etwas der säuerlich riechenden Flüssigkeit in die Einhornmähne. Das Pferd lässt es über sich geschehen. Es wirkt noch etwas unwillig, doch das verfliegt, als Andromeda beginnt, den Apfelessig in die regenbogenfarbene Mähne einzumassieren.

Die anderen Tiere haben sich derweil schon angenähert. Sie schnuppern am Kessel, die ersten beginnen, sich an dem Brei gütlich zu tun.

Andromeda wird es bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Sie liebt diese Tage, wenn es an der Zeit ist, ihre Einhornherde mit einem Ausnahmsleckerbissen – eine Suppe mit allen Zutaten, die die Einhörner lieben – und einer ausgiebigen Haarpflege zu verwöhnen.

Und sie freut sich jetzt schon auf den Anblick, wenn in wenigen Tagen die kunterbunten Mähnen der Einhörner im Wind wehen, wenn sie über die Weide toben, ganz geschmeidig, nicht mehr so struppig wie jetzt.

Sie ist glücklich.

Und die Einhörner sind es auch.

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Erdnüssen machen dick – und tot

Etwas war anders. Man hätte es nicht benennen können – nicht wirklich. Und doch lag etwas in der Luft. Etwas, das zwischen dem Rhythmus tropfenden Kaffees, der dröhnenden Leuchtreklame eines Stripclubs und dem Geruch nach abgestandener Bühne schwebte. Etwas, das Sidney nicht sah, aber fühlte – als würde ein unsichtbarer Vorhang langsam zur Seite gleiten und eine Wahrheit freigeben, auf die er nicht vorbereitet war. Noch nicht.

Es hat etwas Beruhigendes, der Kaffeemaschine bei ihrer Arbeit zuzusehen. Tropf, tropf, tropf – Tropfen für Tropfen füllt sich die Tasse. Es geht ganz langsam, man sieht eigentlich keine Veränderung und trotzdem weiß Sidney ganz genau, dass vor ein paar Minuten die Tasse leerer war.

Er wird aus seinen tiefsinnigen Beobachtungen gerissen, als ihn etwas am Arm berührt. Jemand, es ist jemand. Um genau zu sein, die blonde Sekretärin von John, dem Chef. Sie lacht schrill, als er sich ruckartig zu ihr umdreht.

„Hallo, Sidney.“

Es ist kein gutes Zeichen, dass sie ihn anspricht. Also, an und für sich wäre er echt glücklich, wenn ihn eine wie sie ansprechen würde, aber der Gedanke, dass sie das nicht aus Interesse an ihm macht, zerstört das sofort. Sie will nicht ihn, sie hat den Auftrag, ihm etwas mitzuteilen. Deshalb spart er sich eine Erwiderung.

Sidney sieht das Blondchen einfach nur mit hochgezogener Augenbraue an und wartet ab. Sie versteht erstaunlich schnell.

„Ich soll dir ausrichten, dass es Zeit ist, dass du endlich wieder arbeitest. Du sollst dich um einen Fall kümmern. Hier, das sind die Unterlagen.“

All das rattert sie in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit herunter, dann, bevor er reagieren kann, drückt sie Sidney die Mappen, die sie dabei hat, in die Arme.

Für einen Moment starrt er sie einfach nur fassungslos an. Etwas tun? Also, das ist… Gut, zugegebenermaßen tut er hier nicht übermäßig viel. Er kommt täglich zur Arbeit, ist pünktlich – aber das war es dann schon. Sieht man ja schon daran, dass heute seine aufregendste Tätigkeit war, dem Kaffee dabei zuzusehen, wie er in die Kanne tropft.

Sidney sieht auf die Akten, dann hebt er den Kopf und sieht Blondchen wieder an.

„Und was soll ich jetzt tun?“

Wieder ist sie perfekt vorbereitet.

„Jorge einen Denkzettel verpassen.“

Na super. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er mal so richtig arbeiten muss. Seine heutige Aufgabe ist nicht gerade die dankbarste – Jorge ist hier schon bekannt. Er ist ein typischer Kleinstadtganove, einer, der sich immer an der Grenze des Rechts bewegt und manchmal mit dem kleinen Zeh darüber rutscht. Wenn es wieder soweit ist, muss man ihn zurecht rutschen und der Fall ist erledigt. Allerdings ist Jorge unglaublich dramatisch – sonst würde er sich ja auch nicht so nennen – und das macht diese Aufgabe echt anstrengend.

„Und wie?“

„Diego der Stripper weiß, wo er steckt. Du sollst ihn befragen. Aber vorsichtig – so, dass er nicht sofort zu Jorge rennt und so, dass du herausbekommst, wo Jorge ist. Adresse zu seinem Stripclub ist in der oberen Mappe.“

Damit wäre der Tag endgültig gelaufen. Ein Stripper… Sidney kennt ihn nicht, kennt auch nicht seinen Club. Liegt nicht in dem Radius, aus dem er all seine Gerüchte bekommt. Aber er muss Diego nicht sehen, um zu wissen, wie er aussieht.

Man muss ihm seine Begeisterung ansehen. Blondchen kichert nun nämlich.

„Also, ich würde da sofort hinfahren. Der ist garantiert voll das Sahneschnittchen.“

Ja. Und genau das ist das Problem. Diego sieht höchstwahrscheinlich umwerfend gut aus, hat einen perfekten Körper, wickelt alle Frauen um den Finger… Und damit ist er das absolute Gegenteil von Sidney. So etwas würde er sich freiwillig niemals reinziehen. Er muss sich nicht vor Augen führen lassen, wie erbärmlich er neben anderen Männern aussieht.

„Und ihr seid beide Latinos!“

Macht es immer noch nicht besser. Was soll das schon helfen? Soll er die wichtigen Infos aus Diego herauskitzeln, indem er mit der gemeinsamen Herkunft sein Vertrauen erwirbt? Dass Diego – vermutlich – ebenfalls Latino ist, ist ein weiterer Minuspunkt für den Stripper.

Er hat also nicht nur einen durchtrainierten, ansehnlichen Körper, sondern auch eine wunderbare Hautfarbe – ein sanftes Braun, neben dem Sidneys fahle Haut noch mehr auffällt.

Sidney startet einen Versuch, sich aus dieser Sache zu retten. „Kannst du die Unterlagen nicht jemand anderem bringen? Ich bin heute nicht ganz fit.“

„Nein. Klare Anweisung: Du sollst das machen. Sorry.“

Verdammt.

Eine Stunde später steigt Sidney aus dem Dienstwagen aus. Bei John persönlich wollte er nicht um Gnade bitten, der ist unbarmherzig – Blondchen war seine einzige Chance, seinen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen. Es hat nicht geklappt, also hat er missmutig seine Sachen gepackt und sich auf den Weg zu der Adresse in den Unterlagen gemacht. Zu Diegos Stripclub.

Es ist Spätnachmittag – sein Feierabend wäre schon in greifbarer Nähe gewesen. Nur noch vier Tassen Kaffee… Aber nein, stattdessen steht er hier, in einer gesichtslosen Vorstadt, in einer eher schäbigen Straße, vor einem Haus, in dem alle Fenster noch verrammelt sind. Die Lichter der Leuchtreklame sind noch nicht eingeschalten, das ganze Haus macht einen ziemlich trostlosen Eindruck. Die Arbeitszeit beginnt hier erst später.

Diego sollte schon dort sein. Er sollte sich für den Abend vorbereiten. Seinen Traumkörper einölen, seine Klamotten für den Abend herrichten… Okay, der zweite Teil sollte eher überschaubar sein, allzu viel wird er als Stripper ja nicht tragen. Zumindest am Ende der Vorstellung nicht mehr. Es schüttelt Sidney.

Auf gut Glück versucht Sidney, sich über die Eingangstüre Zugang zu verschaffen. Und es klappt tatsächlich – sie ist nicht abgesperrt und er kann ohne weiteres hinein.

Nach ein paar Metern in den dunklen Gang hinein hört er etwas. Musik. Eher seichte, säuselnde Musik. Und eine Männerstimme, etwas lauter, die dazu mitsingt. Das dürfte dann wohl sein Stripper sein. Eins hat Sidney ihm schon mal voraus: Er kann besser singen. Dabei würde er seine Gesangskünste nicht einmal als besonders gut einstufen. Aber das übertrifft sogar er.

Sidney folgt der Musik und dem schrägen Gesang. Fast jeder seiner Schritte knirscht, als er vorbei am Eingang zu einem kleinen Saal mit Bühne und Tanzstangen läuft, bis er zu einer Türe kommt, die einen Spalt offen steht. Das Licht fällt in einem Streifen in den dunklen Flur. Kurz atmet Sidney tief durch, wappnet sich für das, was ihn da drinnen erwartet. Dann schiebt er die Türe auf und betritt den Raum.

Das ist wohl der Umkleideraum des Strippers. Es stehen mehrere eher spärlich bedeckte Kleiderständer herum, außerdem hängen mehrere Spiegel an der Wand. Vor dem größten Spiegel – ein etwas breiterer Ganzkörperspiegel – steht ein Mann, der sich zur Musik bewegt. Er trägt nur eine Unterhose, ein ausgeleiertes schwarzes Stück Stoff, das nicht viel mit dem hautengen Fetzen zu tun hat, den Sidney erwartet hat. Gut, ursprünglich mag die Unterhose mal so ausgesehen haben, aber jetzt…

Als er hört, dass jemand hinter ihm steht, dreht sich der Mann sofort um. Er will etwas sagen, das sieht man ihm an, doch Sidney kommt ihm zuvor.

„Diego?“

„Ja, der bin ich. Und –“

Bevor er weiterreden kann, schneidet Sidney ihm das Wort ab. Diesmal nicht hauptsächlich, um ihn davon abzuhalten, ihn zu fragen, was er hier tut. Es ist keine bewusste Entscheidung, er denkt nicht groß darüber nach – es rutscht ihm einfach heraus.

„Du bist fett.“

Hätte er vielleicht nicht unbedingt sagen sollen, das ist ihm klar. Aber… Es ist Fakt. Ihm gegenüber steht nicht etwa ein südamerikanischer Vertreter der Chippendales, sondern ein kleiner untersetzter Mann mit unübersehbaren Speckröllchen, der eher in die Küche eines mexikanischen Restaurants passen würde als in einen Stripclub.

„Und du bist unverschämt. Was willst du überhaupt hier?“

So schnell er beim Beleidigen ist, so schnell hat er auch seine Begründung parat. Sidney zieht seine Dienstmarke heraus und streckt sie Diego entgegen, der schnappt sie sich sofort und mustert sie.

„Ich suche Jorge.“

Ja, das Blondchen hat ihm gesagt, er soll behutsam vorgehen. Aber wie soll er das machen? Soll er fragen, wo Diego seinen teuflischen Freund versteckt hat? Entweder direkt oder gar nicht, das ist seine Devise. Und jetzt hat er sich eben für ‚direkt‘ entschieden.

Naserümpfend gibt Diego ihm seine Dienstmarke zurück.

„Der ist nicht hier, wie du siehst.“

„Und wo ist er?“

„Keine Ahnung.“

Natürlich weiß er das, er will es bloß nicht sagen. Das sieht man ihm an. Doch selbst nach einer viertelstündigen Diskussion, in der Sidney alle erdenklichen Drohungen auspackt, von vagen Drohungen wie „Das wird sich noch rächen“ bis hin zu dem Hinweis, dass er sich schon alleine durch Behinderung eines Polizisten strafbar macht, helfen nichts. Diego rückt nicht mit der Sprache heraus.

Und dann bricht er die Diskussion einfach ab.

„Such‘ Jorge, wo du willst. Ich muss mich für meinen Auftritt vorbereiten.“

Hier ist nichts mehr zu holen. Zumindest jetzt nicht. Also lässt Sidney sich von Diego nach draußen führen, versucht dabei, noch so viel wie möglich von seiner Umgebung zu analysieren. Das, was auf dem Gang so knirscht, sind Erdnussschalen. Jetzt, wo Diego das Licht im Flur angeschaltet hat, sieht man das. War da nicht mal ein Fall mit Jorge und Erdnüssen? Sidney meint, dass es sich um eine Bagatelle gehandelt hat – nicht vollständig bezahlte Einfuhrgebühren für eine Ladung Erdnüsse.

Dann schiebt ihn Diego nach draußen und wirft sofort die Türe hinter ihm zu. Das gleißende Tageslicht blendet ihn im ersten Moment.

Am nächsten Tag…

„Das ist… Das ist ja furchtbar!“

John sieht den Polizisten, der ihn hierher begleitet hat, mahnend an. Es ist ein Jungspund, frisch von der Polizeischule, vermutlich. Hat seine Emotionen noch nicht im Griff. Gut, man muss ihm lassen, der Anblick ist schon heftig.

Sidney, sein ehemaliger Kollege und Johns Untergebener, liegt auf seinem Wohnzimmerboden, seine Gesichtsfarbe ist noch ungesünder als sonst. Er hat den Mund voller ungeschälter Erdnüsse – sie sind auch um ihn herum auf dem Boden verteilt. Sogar auf seiner Brust liegen ein paar.

John geht neben der Leiche auf den Boden, fühlt den Puls. Reine Routine – der Mann ist tot. Wie soll er es auch überleben, so viele Erdnüsse in den Mund gestopft bekommen zu haben?

Sein Blick wandert über den Körper des Mannes, über den dicken Bauch, die schlaffen Arme, hin zu den fettigen Haaren. Dann will er sich aufrichten, doch plötzlich hält er inne. Da war etwas. Eine Kleinigkeit, etwas, das nicht ins Bild gepasst hat.

Ein kurzer Blick auf Sidneys Körper und er hat das gefunden, was ihm ins Auge gesprungen, aber erst nicht aufgefallen ist. In seiner Hemdtasche steckt ein Zettel. John zieht ihn heraus und faltet ihn auf, er merkt, dass der Jungspund hinter ihn tritt, um ebenfalls einen Blick auf den Zettel werfen zu können.

„Das kommt davon, wenn man meinen Tänzer belästigt.“

Mit einem schweren Seufzer wirft John die Karte auf den Boden, dann steht er auf.

„Dass Jorge immer so dramatisch sein muss…“

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Weihnachten – Der Weihnachtsbesuch

Weihnachten – zwischen Lichterglanz und Schattenhand

Der Advent bringt oft Wärme und Licht in die dunkelsten Tage des Jahres – doch manchmal verbirgt sich hinter den Kerzenschein auch etwas, das man nicht sofort sieht. In einer Nacht, in der Stille und Schatten sich vermischen, beginnt eine Geschichte, die selbst den Mutigsten den Atem rauben kann. Was sich im Schein der Adventskerzen offenbart, ist mehr als nur festliche Stimmung – es ist ein Geheimnis, das tief in der Dunkelheit lauert.

Stück für Stück tastet Lisa sich vorwärts. Erst erfühlt sie mit den Zehenspitzen die Stufe vor ihr, dann setzt sie den Fuß ab, dann erfühlt sie die nächste Treppenstufe… So schleicht sie die Treppe herunter.

Der riesige Karton, den sie die Treppe herunterträgt, nimmt ihr die Sicht. Sie sieht die Treppenstufen nicht, sieht nicht, ob sie richtig steht oder ob etwas im Weg ist. Deshalb muss sie sich so abmühen. Davon lässt sie sich allerdings nicht die gute Laune trüben. Denn gut gelaunt, das ist sie auf jeden Fall. Wie soll sie auch anders? Es ist Weihnachten, da ist man glücklich, das gehört einfach dazu.

Genau genommen ist Lisas Weihnachten schon vorbei. Die Feier ist beendet, sie räumt gerade die Deko auf. Das ändert jedoch nichts daran, dass immer noch der 24. Dezember ist und die letzten Stunden noch nachhängen.

Dieses Jahr hat Lisa zum ersten Mal mit ihrem Freund Weihnachten gefeiert. Ganz beschaulich, ganz friedlich und ruhig – es war ungewohnt für sie, weil sie sonst eher größere Familienfeiern gewohnt war. Doch heute drehte sich nicht alles um die Kinder – heute drehte sich alles um sie.

Dementsprechend verlief die Feier. Für Lisa war ein kleiner Weihnachtsbaum völlig ausreichend, sie haben keine Weihnachtslieder gesungen oder ähnliches, stattdessen haben sie es sich mit je einem Glas Wein bequem gemacht. Selbst die Bescherung war überschaubar, zumindest, was die Anzahl der Geschenke anging. Es war wunderschön.

Aufräumen muss sie jetzt trotzdem. Sie hat die komplette Weihnachtsdeko eingesammelt und im Karton verstaut, den sie nun in den Keller trägt. Dabei hätte sie absolut kein Problem damit, noch ein paar Tage lang in Weihnachtsstimmung zu bleiben.

Wäre da nicht das Geschenk…

Ihr Freund hat ihr eine Reise geschenkt. Und auf einmal war ihr egal, dass er ein Weihnachtsmuffel ist und davon sprach, dass er am liebsten auf den ganzen Weihnachtsquatsch verzichten würde. Sie tun es, er erspart sich die zwei Weihnachtsfeiertage. Im Gegenzug dafür bekommt Lisa eine Reise – und da verzichtet sie sehr gerne auf Weihnachtsstimmung.

Morgen ist es soweit. Morgen fahren sie los. Und da auch sie keine Lust darauf hat, nach Weihnachten in eine weihnachtlich geschmückte Wohnung zurückzukehren, räumt sie auf.

Alleine.

Ihr Freund musste in die Arbeit, eine letzte Nachtschicht vor dem Urlaub – schön zwischen die kleine Weihnachtsfeier und die Reise gedrückt. Deshalb ist sie so glücklich. Hinter ihr liegt ein traumhafter Abend, vor ihr ein garantiert fantastischer Urlaub…

Sie wird aus ihren Gedanken gerissen, im wahrsten Sinn des Wortes. Denn plötzlich ist da eine Hand in ihren Haaren und packt zu und reißt ihren Kopf ein Stück nach hinten. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Kopfhaut, sie schreit auf. Die Freude ist vergessen, ein ganz anderes Gefühl hat nun das Kommando übernommen: Angst, panische Angst.

Was soll sie tun?

Lisa versucht, sich zu drehen, um einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen – diese Info würde ihr zumindest ein bisschen weiterhelfen. Würde ihr zeigen, ob es sich rentiert, sich zu wehren…

Warum hat sie nichts mitbekommen?

Immer wenn sie durch das Treppenhaus läuft, achtet sie darauf, ob sie jemanden kommen hört – eigentlich noch nicht mal aus Angst, sondern hauptsächlich deswegen, weil sie keine Lust hat, mit den Nachbarn zu sprechen. Und auch jetzt hat sie aufgepasst, dachte sie. Derjenige, der sie so rabiat überfallen hat, muss sich extrem unauffällig angeschlichen haben.

Es ist erstaunlich einfach, den Kopf zu drehen. Der Schmerz in der Kopfhaut bleibt, doch er wird auch nicht stärker.

Und dann kommt der nächste Schock: Das Treppenhaus ist leer.

Außer ihr ist niemand hier. Nur sie und der Karton, der ihr aus den Händen gefallen ist. Immerhin hat sie schon die letzten Stufen erreicht und der Karton ist auf eine gerade Fläche gefallen, scheinbar ohne dass etwas dabei kaputt ging. Zumindest sieht er noch heil aus.

Was ist hier los? Was ist das?

Sie kann erst einmal nicht weiter darüber nachdenken. Das Ziepen wird stärker, dieses Etwas reißt wieder an ihren Haaren. Und diesmal ist es kein reines Zerren, diesmal ist es zielgerichtet – es wird so fest, dass Lisa die letzten Stufen hinunter stolpert. So wird sie bis zur Haustüre geschleift.

Ihre Augen tränen, sie hat das Gefühl, dass sich bald die Kopfhaut von ihrem Kopf ablöst. Das Wissen, dass das eigentlich nicht gehen kann, hilft ihr auch nicht weiter, das löst nämlich nur den Gedanken aus, dass sie gleich mehrere Haarbüschel verliert, wenn das so weitergeht.

Lisa muss einfach nur kurz einen Arm heben und ihren Kopf abtasten…

Aber sie kann nicht. Ihre Arme sind schwer wie Blei.

Vorher wäre es ja vielleicht noch gegangen – nach dem ersten Schreck hatte sie die Eingebung, dass ihr etwas auf den Kopf gefallen ist und sich in ihren Haaren verheddert hat. Doch das hat sich durch das Zerren erledigt. Wäre es ein Gegenstand, der sich dort auf ihrem Kopf befindet, würde er sie nicht Richtung Haustüre zerren.

Das muss etwas anderes sein – und Lisas Gehirn weigert sich schlichtweg, weitere Erklärungen aufzubringen.

Weil diese Erklärungen so schlimm wären, dass sie sie nicht verkraften würde? Reiner Selbstschutz – oder blockiert die Angst ihre Gedankenwege?

Das Ziehen hört nicht auf. Sie wird gegen die Türe gezerrt, der Türgriff bohrt sich schmerzhaft in ihre Seite. Sofort greift sie danach, öffnet die Türe und schiebt sich hinaus. Für einen Moment wird das Ziehen schwächer.

Und dann spürt sie es. Nimmt die Formen des Etwas auf ihrem Kopf wahr.

Das ist eine Hand. Lisa spürt den Handrücken, der sich gegen ihren Hinterkopf drückt, spürt verkrampfte Finger, die ebenfalls auf ihrem Kopf ruhen. Diese Finger haben sich wohl in ihre Haare vergraben. Eine Hand ohne dazugehörigen Mensch. Einfach nur eine Hand, die sie zerrt, ihr wehtut.

Lisas Knie werden schwach, doch es ist keine Zeit für Schwäche. Sie wird weiter gezogen, aus dem Vorgarten hinaus auf die Straße. Und selbst dort lässt der Griff nicht locker.

Hilflos stolpert Lisa die Straßen entlang, immer gezogen von dieser Hand.

Merkt das denn keiner? Gibt es niemanden, der beim Fenster hinaus sieht und sie bemerkt? Es muss doch verdächtig aussehen, wie ihre Haare teilweise in der Luft hängen, wie sie mit dem Kopf voran durch die Straßen stolpert.

Offensichtlich nicht. Ihr Weg bleibt menschenleer, keiner kommt ihr zu Hilfe.

Und dann kann sie auch keinen Anwohner mehr sehen – es geht in den Wald.

Spätestens jetzt wird ihr das alles zu viel. Okay, das ist es schon lange, schon seit dem ersten Ruck, doch jetzt…

Das bisschen Ruhe und Besonnenheit, das sie zurückerlangt hat, verpufft nun. Hier kann ihr wirklich keiner mehr helfen. Was auch immer diese Hand vorhat, niemand wird davon etwas mitbekommen. Keiner sieht sie, keiner hört ihre Schreie.

Diese Erkenntnis weckt ihren Kampfgeist. Sie lehnt sich gegen den Druck, versucht, zurück zu den Häusern zu laufen.

Doch es ist nur ein kurzes Auflehnen – ein weiterer Ruck zeigt ihr, warum sie sich das die ganze Strecke über gefallen ließ.

Sie ist chancenlos.

Weiter geht der Weg, über Stock und Stein und nun stolpert Lisa endgültig mehr als sie läuft. Wie sie sich auf den Beinen hält, weiß sie nicht, doch es klappt irgendwie, auch wenn sie sich immer wieder auf dem Boden abstützen muss.

Ihre Knie tun weh, ihre Füße, ihre Handflächen, die schon ganz dreckig sind, ihr Kopf sowieso, doch die Hand zeigt kein Erbarmen. Sie gewährt ihr keine Pause, zerrt sie immer weiter, weiter, weiter.

Es wird dunkler um sie herum, die Bäume stehen dichter und von den nächsten größeren Straßen ist inzwischen überhaupt nichts mehr zu hören.

Die Angst ist wieder da, hat sie voll im Griff. Und gleichzeitig hält sie sie auch auf den Beinen. Egal was kommt, sie muss laufen.

Zumindest solange, bis das Zerren auf einen Schlag verschwunden ist.

Plötzlich hängt die Hand ganz locker in Lisas Haaren, sie spürt ein ganz leichtes Ziepen, doch im Gegensatz zu gerade eben ist das nichts.

Es ist vorbei. Der Weg ist zu Ende und… Was nun?

Hier ist es etwas heller, zwischen den Bäumen ist mehr Abstand und so kann mehr Sonnenlicht durch die Baumwipfel dringen. Erst jetzt schafft Lisa es, sich umzusehen, ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen – bis gerade eben hat sie sich nur auf den Boden unter ihren Füßen konzentriert, für alles andere war keine Zeit hier.

Sie ist alleine. Außer ihr und der Hand ist niemand hier.

Es ist fast schon schön hier – es wäre schön, wenn sie nicht unter so skurrilen Umständen hier gelandet wäre.

Und was sie noch davon abhält, die Stelle schön zu finden…

Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, ihr Herz fühlt sich an, als hätte sich eine eiskalte Hand darum geschlossen. Sie hat wieder Angst, doch irgendwie ist es ganz anders als zuvor. Als wäre es nicht ihre eigene Angst.

Die Hand legt sich an ihren Hinterkopf, sie spürt die Knöchel, die sich gegen ihren Schädelknochen drücken. Intuitiv macht sie einen Schritt zur Seite.

Und dann sieht sie, warum sie hier ist – was hier so merkwürdig ist, was dem Platz die unschuldige Schönheit raubt.

Von hier aus kann sie an den Büschen vorbeiblicken, die direkt vor ihr wuchern. Von alleine macht sie noch einen Schritt zur Seite, um ihr Blickfeld noch weiter zu vergrößern, doch schon der erste Blick hat gereicht, um zu erkennen, was sich dort hinter den Büschen verbirgt.

Ein Körper.

Hinter den Büschen liegt ein lebloser Körper. Die eiskalte Hand um ihr Herz packt noch fester zu, sie schluckt. Es ist ein kleiner, schmaler Körper, der Körper eines Mädchens oder einer jungen Frau, so genau kann Lisa ihr Alter nicht einschätzen.

Ihre Haut ist blass, fast schon weiß, unter den Augen hat sie sehr dunkle Augenringe. Ihre blonden langen Haare liegen wie ein Teppich um ihren Kopf herum – es wirkt wie ein Heiligenschein. Sie trägt ein blaues, geblümtes Kleid und darüber eine dunkelblaue Jacke, die offen steht.

Dann gleitet Lisas Blick zu ihren Armen und der Kloß in ihrem Hals wird noch größer. Eine Hand des Mädchens liegt schlaff neben ihr, sogar von hier aus erkennt Lisa den farblich perfekt zum Kleid passenden hellblauen Nagellack an ihren Fingernägeln.

An ihrem anderen Arm ist… nichts. Das Handgelenk ist ein blutiger Stummel, die Hand fehlt.

Lisas Augen brennen, sie spürt, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen laufen. Die Angst ist wie weggeblasen, sie fühlt nur Trauer – eine unendliche Schwere.

Die Hand beginnt, ihren Kopf zu tätscheln. Ganz sanft und liebevoll und irgendwie… dankbar.

Diese fünfte Geschichte schließt die Weihnachtsserie mit einem letzten, eindringlichen Kapitel ab, das weit entfernt ist von den klassischen Bildern von fröhlicher Besinnlichkeit und warmem Kerzenschein. Über die vorherigen vier Geschichten hinweg haben wir unterschiedliche Facetten des Advents und der Weihnachtszeit erlebt – mal zart und hoffnungsvoll, mal nachdenklich und geheimnisvoll. Doch nun, im finalen Akt, wird die Oberfläche von Weihnachten aufgebrochen, um das Verborgene zu zeigen: die Schatten, die auch in der hellsten Zeit des Jahres existieren. Diese Erzählung zeigt, wie dünn die Grenze zwischen Freude und Angst sein kann, wie leicht das Licht vom Dunkel verschluckt wird – gerade dann, wenn das Herz eigentlich voller Wärme sein sollte. So wird der Advent nicht nur zum Warten auf das Fest, sondern auch zum Blick in das Unbekannte, das hinter der festlichen Fassade lauert.

Weihnachten ist mehr als nur Lichterglanz und frohe Lieder – es ist ein Moment, der uns mit all seinen Facetten berührt: die Sehnsucht nach Nähe, die Einsamkeit, die Hoffnung auf Rettung und auch das Bewusstsein für das Zerbrechliche im Leben. In dieser Zeit, in der die Welt stillzustehen scheint, öffnen sich auch Türen zu längst verdrängten Ängsten und Erinnerungen. Vielleicht liegt gerade darin die eigentliche Magie von Weihnachten – nicht nur im Glanz, sondern auch im ehrlichen Annehmen der Dunkelheit, die dazugehört. So werden wir eingeladen, mit einem wachen Herzen durch die Nacht zu gehen, denn hinter jedem Schatten kann ein Licht warten.

Inmitten von Dunkelheit und Schatten wünschen wir Ihnen dennoch ein Weihnachten, das Mut macht – ein Weihnachten, das Raum lässt für alle Gefühle, die diese Zeit mit sich bringt. Möge das Fest Ihnen trotz aller Geheimnisse und Ängste auch einen Moment der Ruhe schenken, ein kleines Licht in der Nacht, das Ihnen Hoffnung und Kraft gibt. Frohe Weihnachten – in all ihrer Vielschichtigkeit und Tiefe.

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