Etwas war anders. Man hätte es nicht benennen können – nicht wirklich. Und doch lag etwas in der Luft. Etwas, das zwischen dem Rhythmus tropfenden Kaffees, der dröhnenden Leuchtreklame eines Stripclubs und dem Geruch nach abgestandener Bühne schwebte. Etwas, das Sidney nicht sah, aber fühlte – als würde ein unsichtbarer Vorhang langsam zur Seite gleiten und eine Wahrheit freigeben, auf die er nicht vorbereitet war. Noch nicht.
Es hat etwas Beruhigendes, der Kaffeemaschine bei ihrer Arbeit zuzusehen. Tropf, tropf, tropf – Tropfen für Tropfen füllt sich die Tasse. Es geht ganz langsam, man sieht eigentlich keine Veränderung und trotzdem weiß Sidney ganz genau, dass vor ein paar Minuten die Tasse leerer war.
Er wird aus seinen tiefsinnigen Beobachtungen gerissen, als ihn etwas am Arm berührt. Jemand, es ist jemand. Um genau zu sein, die blonde Sekretärin von John, dem Chef. Sie lacht schrill, als er sich ruckartig zu ihr umdreht.
„Hallo, Sidney.“
Es ist kein gutes Zeichen, dass sie ihn anspricht. Also, an und für sich wäre er echt glücklich, wenn ihn eine wie sie ansprechen würde, aber der Gedanke, dass sie das nicht aus Interesse an ihm macht, zerstört das sofort. Sie will nicht ihn, sie hat den Auftrag, ihm etwas mitzuteilen. Deshalb spart er sich eine Erwiderung.
Sidney sieht das Blondchen einfach nur mit hochgezogener Augenbraue an und wartet ab. Sie versteht erstaunlich schnell.
„Ich soll dir ausrichten, dass es Zeit ist, dass du endlich wieder arbeitest. Du sollst dich um einen Fall kümmern. Hier, das sind die Unterlagen.“
All das rattert sie in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit herunter, dann, bevor er reagieren kann, drückt sie Sidney die Mappen, die sie dabei hat, in die Arme.
Für einen Moment starrt er sie einfach nur fassungslos an. Etwas tun? Also, das ist… Gut, zugegebenermaßen tut er hier nicht übermäßig viel. Er kommt täglich zur Arbeit, ist pünktlich – aber das war es dann schon. Sieht man ja schon daran, dass heute seine aufregendste Tätigkeit war, dem Kaffee dabei zuzusehen, wie er in die Kanne tropft.
Sidney sieht auf die Akten, dann hebt er den Kopf und sieht Blondchen wieder an.
„Und was soll ich jetzt tun?“
Wieder ist sie perfekt vorbereitet.
„Jorge einen Denkzettel verpassen.“
Na super. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er mal so richtig arbeiten muss. Seine heutige Aufgabe ist nicht gerade die dankbarste – Jorge ist hier schon bekannt. Er ist ein typischer Kleinstadtganove, einer, der sich immer an der Grenze des Rechts bewegt und manchmal mit dem kleinen Zeh darüber rutscht. Wenn es wieder soweit ist, muss man ihn zurecht rutschen und der Fall ist erledigt. Allerdings ist Jorge unglaublich dramatisch – sonst würde er sich ja auch nicht so nennen – und das macht diese Aufgabe echt anstrengend.
„Und wie?“
„Diego der Stripper weiß, wo er steckt. Du sollst ihn befragen. Aber vorsichtig – so, dass er nicht sofort zu Jorge rennt und so, dass du herausbekommst, wo Jorge ist. Adresse zu seinem Stripclub ist in der oberen Mappe.“
Damit wäre der Tag endgültig gelaufen. Ein Stripper… Sidney kennt ihn nicht, kennt auch nicht seinen Club. Liegt nicht in dem Radius, aus dem er all seine Gerüchte bekommt. Aber er muss Diego nicht sehen, um zu wissen, wie er aussieht.
Man muss ihm seine Begeisterung ansehen. Blondchen kichert nun nämlich.
„Also, ich würde da sofort hinfahren. Der ist garantiert voll das Sahneschnittchen.“
Ja. Und genau das ist das Problem. Diego sieht höchstwahrscheinlich umwerfend gut aus, hat einen perfekten Körper, wickelt alle Frauen um den Finger… Und damit ist er das absolute Gegenteil von Sidney. So etwas würde er sich freiwillig niemals reinziehen. Er muss sich nicht vor Augen führen lassen, wie erbärmlich er neben anderen Männern aussieht.
„Und ihr seid beide Latinos!“
Macht es immer noch nicht besser. Was soll das schon helfen? Soll er die wichtigen Infos aus Diego herauskitzeln, indem er mit der gemeinsamen Herkunft sein Vertrauen erwirbt? Dass Diego – vermutlich – ebenfalls Latino ist, ist ein weiterer Minuspunkt für den Stripper.
Er hat also nicht nur einen durchtrainierten, ansehnlichen Körper, sondern auch eine wunderbare Hautfarbe – ein sanftes Braun, neben dem Sidneys fahle Haut noch mehr auffällt.
Sidney startet einen Versuch, sich aus dieser Sache zu retten. „Kannst du die Unterlagen nicht jemand anderem bringen? Ich bin heute nicht ganz fit.“
„Nein. Klare Anweisung: Du sollst das machen. Sorry.“
Verdammt.
Eine Stunde später steigt Sidney aus dem Dienstwagen aus. Bei John persönlich wollte er nicht um Gnade bitten, der ist unbarmherzig – Blondchen war seine einzige Chance, seinen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen. Es hat nicht geklappt, also hat er missmutig seine Sachen gepackt und sich auf den Weg zu der Adresse in den Unterlagen gemacht. Zu Diegos Stripclub.
Es ist Spätnachmittag – sein Feierabend wäre schon in greifbarer Nähe gewesen. Nur noch vier Tassen Kaffee… Aber nein, stattdessen steht er hier, in einer gesichtslosen Vorstadt, in einer eher schäbigen Straße, vor einem Haus, in dem alle Fenster noch verrammelt sind. Die Lichter der Leuchtreklame sind noch nicht eingeschalten, das ganze Haus macht einen ziemlich trostlosen Eindruck. Die Arbeitszeit beginnt hier erst später.
Diego sollte schon dort sein. Er sollte sich für den Abend vorbereiten. Seinen Traumkörper einölen, seine Klamotten für den Abend herrichten… Okay, der zweite Teil sollte eher überschaubar sein, allzu viel wird er als Stripper ja nicht tragen. Zumindest am Ende der Vorstellung nicht mehr. Es schüttelt Sidney.
Auf gut Glück versucht Sidney, sich über die Eingangstüre Zugang zu verschaffen. Und es klappt tatsächlich – sie ist nicht abgesperrt und er kann ohne weiteres hinein.
Nach ein paar Metern in den dunklen Gang hinein hört er etwas. Musik. Eher seichte, säuselnde Musik. Und eine Männerstimme, etwas lauter, die dazu mitsingt. Das dürfte dann wohl sein Stripper sein. Eins hat Sidney ihm schon mal voraus: Er kann besser singen. Dabei würde er seine Gesangskünste nicht einmal als besonders gut einstufen. Aber das übertrifft sogar er.
Sidney folgt der Musik und dem schrägen Gesang. Fast jeder seiner Schritte knirscht, als er vorbei am Eingang zu einem kleinen Saal mit Bühne und Tanzstangen läuft, bis er zu einer Türe kommt, die einen Spalt offen steht. Das Licht fällt in einem Streifen in den dunklen Flur. Kurz atmet Sidney tief durch, wappnet sich für das, was ihn da drinnen erwartet. Dann schiebt er die Türe auf und betritt den Raum.
Das ist wohl der Umkleideraum des Strippers. Es stehen mehrere eher spärlich bedeckte Kleiderständer herum, außerdem hängen mehrere Spiegel an der Wand. Vor dem größten Spiegel – ein etwas breiterer Ganzkörperspiegel – steht ein Mann, der sich zur Musik bewegt. Er trägt nur eine Unterhose, ein ausgeleiertes schwarzes Stück Stoff, das nicht viel mit dem hautengen Fetzen zu tun hat, den Sidney erwartet hat. Gut, ursprünglich mag die Unterhose mal so ausgesehen haben, aber jetzt…
Als er hört, dass jemand hinter ihm steht, dreht sich der Mann sofort um. Er will etwas sagen, das sieht man ihm an, doch Sidney kommt ihm zuvor.
„Diego?“
„Ja, der bin ich. Und –“
Bevor er weiterreden kann, schneidet Sidney ihm das Wort ab. Diesmal nicht hauptsächlich, um ihn davon abzuhalten, ihn zu fragen, was er hier tut. Es ist keine bewusste Entscheidung, er denkt nicht groß darüber nach – es rutscht ihm einfach heraus.
„Du bist fett.“
Hätte er vielleicht nicht unbedingt sagen sollen, das ist ihm klar. Aber… Es ist Fakt. Ihm gegenüber steht nicht etwa ein südamerikanischer Vertreter der Chippendales, sondern ein kleiner untersetzter Mann mit unübersehbaren Speckröllchen, der eher in die Küche eines mexikanischen Restaurants passen würde als in einen Stripclub.
„Und du bist unverschämt. Was willst du überhaupt hier?“
So schnell er beim Beleidigen ist, so schnell hat er auch seine Begründung parat. Sidney zieht seine Dienstmarke heraus und streckt sie Diego entgegen, der schnappt sie sich sofort und mustert sie.
„Ich suche Jorge.“
Ja, das Blondchen hat ihm gesagt, er soll behutsam vorgehen. Aber wie soll er das machen? Soll er fragen, wo Diego seinen teuflischen Freund versteckt hat? Entweder direkt oder gar nicht, das ist seine Devise. Und jetzt hat er sich eben für ‚direkt‘ entschieden.
Naserümpfend gibt Diego ihm seine Dienstmarke zurück.
„Der ist nicht hier, wie du siehst.“
„Und wo ist er?“
„Keine Ahnung.“
Natürlich weiß er das, er will es bloß nicht sagen. Das sieht man ihm an. Doch selbst nach einer viertelstündigen Diskussion, in der Sidney alle erdenklichen Drohungen auspackt, von vagen Drohungen wie „Das wird sich noch rächen“ bis hin zu dem Hinweis, dass er sich schon alleine durch Behinderung eines Polizisten strafbar macht, helfen nichts. Diego rückt nicht mit der Sprache heraus.
Und dann bricht er die Diskussion einfach ab.
„Such‘ Jorge, wo du willst. Ich muss mich für meinen Auftritt vorbereiten.“
Hier ist nichts mehr zu holen. Zumindest jetzt nicht. Also lässt Sidney sich von Diego nach draußen führen, versucht dabei, noch so viel wie möglich von seiner Umgebung zu analysieren. Das, was auf dem Gang so knirscht, sind Erdnussschalen. Jetzt, wo Diego das Licht im Flur angeschaltet hat, sieht man das. War da nicht mal ein Fall mit Jorge und Erdnüssen? Sidney meint, dass es sich um eine Bagatelle gehandelt hat – nicht vollständig bezahlte Einfuhrgebühren für eine Ladung Erdnüsse.
Dann schiebt ihn Diego nach draußen und wirft sofort die Türe hinter ihm zu. Das gleißende Tageslicht blendet ihn im ersten Moment.
Am nächsten Tag…
„Das ist… Das ist ja furchtbar!“
John sieht den Polizisten, der ihn hierher begleitet hat, mahnend an. Es ist ein Jungspund, frisch von der Polizeischule, vermutlich. Hat seine Emotionen noch nicht im Griff. Gut, man muss ihm lassen, der Anblick ist schon heftig.
Sidney, sein ehemaliger Kollege und Johns Untergebener, liegt auf seinem Wohnzimmerboden, seine Gesichtsfarbe ist noch ungesünder als sonst. Er hat den Mund voller ungeschälter Erdnüsse – sie sind auch um ihn herum auf dem Boden verteilt. Sogar auf seiner Brust liegen ein paar.
John geht neben der Leiche auf den Boden, fühlt den Puls. Reine Routine – der Mann ist tot. Wie soll er es auch überleben, so viele Erdnüsse in den Mund gestopft bekommen zu haben?
Sein Blick wandert über den Körper des Mannes, über den dicken Bauch, die schlaffen Arme, hin zu den fettigen Haaren. Dann will er sich aufrichten, doch plötzlich hält er inne. Da war etwas. Eine Kleinigkeit, etwas, das nicht ins Bild gepasst hat.
Ein kurzer Blick auf Sidneys Körper und er hat das gefunden, was ihm ins Auge gesprungen, aber erst nicht aufgefallen ist. In seiner Hemdtasche steckt ein Zettel. John zieht ihn heraus und faltet ihn auf, er merkt, dass der Jungspund hinter ihn tritt, um ebenfalls einen Blick auf den Zettel werfen zu können.
„Das kommt davon, wenn man meinen Tänzer belästigt.“
Mit einem schweren Seufzer wirft John die Karte auf den Boden, dann steht er auf.
„Dass Jorge immer so dramatisch sein muss…“