Zwischen Schatten und Licht

Ein falscher Schritt, ein betrunkenes Argument, ein Hauch von Halloween – und plötzlich ist alles anders. Chimi wollte eigentlich nur diskutieren, ein bisschen laufen, vielleicht ein Taxi rufen. Doch die Nacht hat andere Pläne mit ihm. Es beginnt mit einem Griff an den Po und endet in einem Stripclub – dazwischen: verlorenes Vertrauen, gefundene Freundlichkeit, ein Lächeln, das mehr verrät als Worte. Und irgendwo in dieser Nacht – vielleicht sogar in einem gestohlenen Geldbeutel – steckt etwas, das sich wie Schicksal anfühlt.

„So. Fertig.“
Chimi drückt ganz schwungvoll auf den Senden-Pfeil in seinem Handy. So schwungvoll, dass er gegen die Wand prallt. Aber das ist nicht wild, er schwankt schon die ganze Zeit beim Laufen hin und her und hat dementsprechend schon öfter mit der Wand Bekanntschaft gemacht. Ist eine gute Wand, hat ihm immer Rückhalt gegeben. Oder Seithalt oder so.

Und Rückhalt, den braucht er. Nicht nur, weil er sich beim Schreiben nicht darauf konzentrieren konnte, geradeaus zu laufen – er führt hier eine extrem wichtige Diskussion und außer der Wand steht niemand hinter ihm. Oder neben ihm. Auch nicht im bildlichen Sinne.

Die Diskussion ist nun beendet. Er ist zu Hochformen aufgelaufen und hat gerade das Totschlagargument geliefert. Vielleicht sollte er, wenn er schon so in Form ist, sich selbst eine Nachricht schreiben, warum diese Diskussion wichtig war… Chimi weiß genau, dass sein nüchternes Ich von morgen Früh wieder von seinem betrunkenen Ich – also sein aktuelles Ich – genervt sein wird. Wenn er betrunken ist, diskutiert er nämlich verdammt gerne – viel zu gerne, wenn es nach seinem nüchternen Empfinden geht.

Nein, die Nachricht an sich selbst ist nicht nötig. Das ist eine unglaublich wichtige Diskussion, nicht so etwas wie… Was war gleich noch mal seine letzte Diskussion? Dürfte die mit den Delfinen gewesen sein – ob Delfine nun gut oder böse sind. Aber diese Diskussion gerade eben war schon wichtig.

Seine Freunde, mit denen er bis vorher auf der Halloweenfeier war, haben ihm nämlich den ganzen Abend vorgeworfen, dass er die Verkleidungsaufforderung nicht ernst genommen hat. Nicht ernst genommen, ha. Nur weil Chimi nicht stundenlang Kostüme genäht und Schminke aufgetragen hat, so wie alle anderen in dem Laden, in dem die Feier stattgefunden hat.

Und weil sie ihn nicht ausreden ließen und es ihm eh egal war, weil er in den Laden gekommen ist und das das einzig Wichtige an seinem Kostüm war, musste er jetzt die Diskussion abschließen. Jetzt, wo er betrunken genug dafür ist und auf dem Weg durch die Stadt eh genügend Zeit hat.

Nur weil er sich als Frankenstein verkleidet hat… Dass alle, die sich als sein Monster verkleiden, nicht so originalgetreu sind wie Chimi, steht doch fest. Und dass er es sich zu leicht gemacht hat, lässt er auch nicht gelten. Frankenstein ist eine Horrorfigur und jeder, der gebildet ist, weiß, dass nicht das Monster, sondern Frankenstein himself das wahre Monster war.

Aber jetzt ist das geklärt und Chimi kann beflügelt weiterlaufen. Wo er entlang läuft, ist nebensächlich. Er hat das Bedürfnis zu laufen und wenn dieses Bedürfnis abgeklungen ist, ruft er sich einfach ein Taxi und fährt nach Hause.

Eine Hand reißt ihn aus seinen Gedanken, aus seiner Trance, und befördert ihn wieder in die Straße, durch die er gerade läuft. Diese Hand legt sich nämlich auf seinen Po und als Chimi zur Seite sieht, erblickt er den dazugehörigen Mann. Scheinbar auch ein Halloween-Partygänger und zwar einer, der sich bei seiner Kostümierung doch etwas mehr Mühe gegeben hat als Chimi, der sich für ein ganz normales Outfit, bestehend aus Jeans und T-Shirt, entschieden hat.

Der andere Mann ist nämlich komplett schwarz angezogen und hat die Kapuze seines Pullis so über den Kopf gezogen, dass sein Gesicht in einem Schatten liegt. Nur sein Mund ist sichtbar – dünne Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen haben und ganz weiße, gerade Zähne offenbaren. Trotzdem ist ziemlich eindeutig, dass er ein Mann ist. Schon seine Statur spricht dafür – er ist etwas größer und breiter als Chimi.

Chimi erwidert das Lächeln, dann beschleunigt er seine Schritte, so dass die Hand des Fremden wieder von seinem Po rutscht.
„Kein Interesse, sorry.“

Sofort holt der andere wieder auf. Doch seine Hand lässt er diesmal bei sich.
„Schade.“

Seine Stimme ist knurrig, knarzig – er klingt, als würde er täglich mehrere Packungen Zigaretten rauchen. Und das ist dann auch erst einmal der letzte Eindruck, den Chimi von dem Fremden hat. Er läuft los und lässt Chimi hinter sich liegen.

Chimi sieht ihm hinterher, sieht ihm dabei zu, wie er ein paar Häuser weiter einen Club betritt. Sofort sieht Chimi nach oben, um die Leuchtreklame über dem Eingang zu mustern. Ah, ein Stripclub. Mit dem bezaubernden Untertitel „Von Männern für Männer“. Das erklärt dann auch den Annäherungsversuch – er ist im Schwulenviertel gelandet.

Jetzt sollte er aber wirklich schauen, dass er nach Hause kommt. Wenn er wirklich im Schwulenviertel ist, ist seine Wohnung ein gutes Stück entfernt und auch wenn er noch Bock auf Laufen hat, sollte er doch mal seine Schritte in die richtige Richtung lenken.

Okay. Laufen. Zielgerichtet laufen.
Chimi schiebt also sein Handy in die Potasche seiner Jeans. Nicht in die linke, da ist sein – Halt. Da sollte sein Geldbeutel sein, aber er spürt nichts. Auch nicht, als er die betreffende Hosentasche abtastet. Nichts. Da ist nichts.

Aber er hatte seinen Geldbeutel vorher noch, da ist er sich ganz sicher. Er überprüft immer seine Taschen, wenn er einen Club verlässt – da kann er noch so betrunken sein, das ist inzwischen Routine. Es gibt nur eine Möglichkeit, wohin der Geldbeutel verschwunden ist. Nämlich in die Hand, die ihn vorher getätschelt hat. Der Kerl wollte ihm gar nicht an die Wäsche – er wollte nur sein Geld.

Chimi braucht nur wenige Sekunden, um den daraus resultierenden Entschluss zu treffen. Er rennt los, rennt zu dem Club, in den der Dieb gerade verschwunden ist.

Scheinbar hat sie Ramóns Erklärung so interpretiert, dass Chimi ihren mütterlichen Schutz braucht. Die erste Teigtasche war richtig lecker, also nimmt Chimi dankend an.

„Weil er gut zahlt. Nur deswegen können wir uns dieses Haus leisten.“ Erst jetzt wird Chimi bewusst, wo er hier gelandet ist. Müsste eine ärmere Gegend sein – alles hier ist etwas spärlich, auch wenn man sieht, dass sich die Bewohner Mühe gegeben haben, ihr Domizil schön herzurichten.

Deshalb arbeitet Ramón also als Tänzer: Um seiner Familie ein Zuhause zu finanzieren.

„Aber der arme Junge… Kannst du nicht mit El Diablo reden?“
Chimi will abwinken, will sie davon abbringen. Für ihn ist der Inhalt seines Geldbeutels überschaubar – es hätte halt Umstände gemacht, all die Karten und Ausweise neu ausstellen zu lassen, doch das Bargeld, das er dabei hatte, ist für ihn eine Kleinigkeit.

Für Ramón, der in wesentlich ärmeren Verhältnissen lebt, geht es jedoch um mehr. Wenn er es sich mit seinem Chef verscherzt, verliert er vielleicht seinen Job und damit auch das Geld für das Haus seiner Familie.

Doch er muss nichts sagen. Ramón kommt ihm zuvor.
„Mamá, ist schon okay.“
Kurz sehen sich die beiden böse an, doch das Blickduell gewinnt offensichtlich keiner von ihnen.

Um die etwas angespannte Stimmung zu lockern, beschließt Chimi, sich nun auch mal ins Gespräch einzuschalten.
„Die Empanadas ist wirklich sehr gut.“

Es hilft. Sofort strahlt ihn Ramóns Mutter an.
„Ramón isst gerne so etwas zum Frühstück. Wenn er wieder die ganze Nacht gearbeitet hat, braucht er am nächsten Morgen etwas Deftiges.“
„Kann ich verstehen.“

Dass er das verstehen kann, weil es ihm nach einer durchgefeierten Nacht auch so geht, sagt er lieber nicht. Im Moment fühlt er sich dafür echt schäbig.

Für Ramóns Mutter ist die Antwort dagegen völlig ausreichend. Ihr Strahlen wird noch breiter.
„Ramón ist ein guter Junge.“

Nun grinst sie ihn vielsagend an. Irritiert sieht Chimi zu Ramón hinüber, doch der verdrückt ganz unbeeindruckt den letzten Bissen seiner Teigtasche – Empanadas also. Mehr kommt dann auch nicht mehr von seiner Mutter. Immer noch lächelnd steht sie auf und räumt die leeren Schüsseln beiseite.

Als sie beide fertig gegessen haben, steht Ramón auf und bedeutet Chimi, ihm zu folgen.
Sie kehren in Ramóns Zimmer zurück, das Chimi nun mit ganz anderen Augen sieht. Das, was für ihn eine winzige Unterkunft war, ist für Ramón ein Luxus, den er sich nur leisten kann, weil er sich Nacht für Nacht von fremden Männern begaffen lässt…

Lange kann er darüber jedoch nicht nachdenken. Ramón holt etwas aus einer Schublade, dann stellt er sich vor Chimi und drückt es ihm in die Hand.
Es ist… Sein Geldbeutel.

Wirklich sein Geldbeutel, stellt Chimi fest, als er ihn aufklappt und seine Ausweise darin findet. Alles ist da – sein Führerschein, sein Ausweis, seine Kreditkarten, sogar sein Bargeld.
Überrascht sieht er auf.
„Woher hast du…? Du kannst das doch nicht machen! Was sagt El Diablo dazu?“

Ramón zuckt mit den Schultern, sein Lächeln ist schief.
„Er klaut doch eh nur, weil es ihm Spaß macht. Die Sachen, die er klaut, wirft er einfach in unsere Umkleide, das ist dann so etwas wie Trinkgeld. Und diesmal habe ich mir halt den ganzen Geldbeutel genommen.“

Wieder geht Chimis Blick zu seinem zurückgewonnenen Geldbeutel. Ramón hat sich also nicht nur um ihn gekümmert, als er sich abgeschossen hat – er hat auch noch seinen Geldbeutel besorgt.
Er klappt den Geldbeutel erneut auf, will ein paar Geldscheine herauszunehmen, um sie Ramón zu geben. Doch dann legt sich Ramóns Hand auf seine.
„Nicht.“
„Aber du hast dich um mich gekümmert. Und du hattest Ausgaben. Du hast das Busticket für mich gezahlt, nehme ich an und –“

Kurz überlegt Chimi. Was war gestern Abend noch? Ach ja, sein übermäßiger Alkoholkonsum. Klang dann doch so, als wäre das nicht aufs Haus gegangen.
„Und meine Getränke und so weiter.“

Wieder schüttelt Ramón den Kopf.
„Habe ich aus deinem Geldbeutel bezahlt. Du schuldest mir nichts.“
„Aber dafür, dass ich hier übernachten durfte und ein Frühstück bekommen habe…“
„Ist schon okay.“

Nun versteht Chimi auch, warum Ramón vorher seiner Mutter gegenüber so entspannt war. Er musste sich keine Sorgen um den gestohlenen Geldbeutel machen, weil er ihn schon in sicheren Händen wusste.

Dann wird Ramóns Grinsen etwas breiter.
„Weißt du, ich hätte das nicht für jeden gemacht.“

Chimi kann nicht anders, er muss das Grinsen erwidern.
Und in seinem Kopf formt sich ein Plan. Wenn Ramón, der netteste Tänzer dieser Stadt, kein Geld annehmen will, wird er sich anders bei ihm bedanken.
Wenn schon – wenn er sich umsieht, sieht er, dass Ramón auch Hilfe braucht. Und auch er würde das nicht für jeden machen.

Als Chimi sich später an diesem Tag verabschiedet, wird er noch von Ramóns Mutter aufgehalten.
„Möchtest du nicht noch zum Abendessen da bleiben?“

Chimi muss nicht auf seine Uhr schauen, um zu wissen, dass noch lange nicht Abendessenszeit ist. Aber er war lange genug hier – er muss endlich mal nach Hause. Ramón hat das so hingenommen, seine Mutter scheint da mehr Probleme zu machen.

„Er muss jetzt heim, Mamá. Aber er kommt wieder.“

Wieder einmal zeigt sich, dass Ramón genau weiß, was er sagen muss, um seine Mutter zu beruhigen.
Sie ist sofort besänftigt und gibt jeglichen Widerstand auf.

Über ihren Kopf hinweg sieht Ramón Chimi an. Und sein Lächeln überzeugt Chimi endgültig davon, sein Versprechen einzulösen und ihn mal zu besuchen.