Manchmal verbergen sich hinter scheinbar harmlosen Alltagsmomenten dunkle Spannungen – wie im geheimnisvollen Duell zwischen Ernie, der listigen Katze, und Bert, dem ungestümen Hund. Ihre unausgesprochenen Konflikte wirken wie Schatten, die das Haus durchziehen, während draußen die Halloween-Nacht heranrückt und die Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt. In diesem stillen Ringen offenbaren sich Geheimnisse von Macht, Angst und Verbundenheit – und die Frage, wer im Schatten wirklich die Oberhand gewinnt.
Ernie wird von einem dumpfen Knall aus seinem Nickerchen geweckt. Als er den Kopf hebt, sieht er, wie sich Bert gerade aufrappelt und weiter herumhüpft. Scheinbar ist der Idiot gerade vor lauter Aufregung gegen die Fensterscheibe oder den Türrahmen der Balkontüre geknallt.
„Scheiße, Ernie, sie sind da!“
Mit einem Gähnen streckt sich Ernie. Natürlich achtet er darauf, dass er dabei seine Krallen ausfährt und dass man das auch sieht. Man, das ist in diesem Fall Bert. Er hat eine Heidenangst vor Ernies Krallen und da reicht es schon, wenn er sie ein kleines bisschen ausfährt, damit der dumme Hund durchdreht.
Ja, ein Hund. Bert ist ein Hund, ein Golden Retriever oder so etwas, so gut kennt Ernie sich da nicht aus. Ein gelber, blonder Hund, wie auch immer. Einer, der den Namen Bert verdient hat, dachten sich ihre Herrchen. So wie sie der Meinung waren, ihre zugegebenermaßen etwas rundliche Katze Ernie nennen zu müssen. Weil sie ja so ein wundervolles Duo sind. Na klar.
„Gegenseitiges Respektieren“ trifft es eher und selbst das ist schon sehr optimistisch ausgedrückt. Ernie respektiert, dass Bert ein paar Nummern größer ist als er, Bert respektiert, dass Ernie sich wehren kann, wenn es nötig ist.
Die Geste hat die gewünschte Wirkung. Bert zuckt zusammen, er unterbricht sein Gehüpfe kurz. Doch dann hört man von draußen das Geräusch einer Autotüre und er nimmt sein Tänzchen wieder auf. Okay, der Hund ist völlig von der Rolle. Dann ist es an der Zeit, dass Ernie sich das unter die Lupe nimmt, was seinen großen Mitbewohner so aus der Ruhe bringt.
Ganz langsam steht er auf und stakst zu Bert hinüber, dessen Blick nervös zwischen Garten und Ernie hin und her huscht. So gelassen wie Ernie tut, ist er bei Weitem nicht. Schließlich weiß auch er, was heute ansteht.
Halloween.
Es ist der 31. Oktober und ihr Haus steht kurz davor, von kleinen Rabauken geflutet zu werden. Jedes Jahr das Gleiche und je größer der Große wird, desto schlimmer werden seine Halloweenfeiern. Und die Kleine macht halt das, was der Große früher gemacht hat.
Bei Bert angekommen, hüpft Ernie auf die Fensterbank. Dort hat er seine Kuscheldecke, dort ist es gemütlich. Hier oben fühlt er sich wie ein König. Zumindest so lange, bis er nach einigem Herumtapsen einen bequemen Platz gefunden hat und von dort aus nach draußen blickt.
Ein bisschen versteht er Berts Panik. Okay, zugegebenermaßen versteht er sie ziemlich gut – nur seine Reaktion halt nicht.
Von seinem Platz aus hat er einen wunderbaren Ausblick auf den Garten. Er sieht das Stück Rasen, auf dem die Kinder immer mit Bert spielen, er sieht den knorrigen Apfelbaum, auf den Ernie im Sommer gerne klettert. Das ist schön.
Nicht schön ist, was gerade dort zu sehen ist.
Auf dem Rasen tummelt sich eine Horde Steppkes und jeder von ihnen ist verkleidet. Im Moment vergleichen sie noch ihre Kostüme miteinander, aber Ernie weiß genau, dass das bald vorbei ist und dass dann die Katastrophe so richtig los geht. Wenn sie das Haus fluten… Seine Krallen bohren sich in die Decke.
„Ernie, was tun wir?“ Ein Winseln reißt ihn aus seiner Angst. Neben der Fensterbank, auf seinem Platz vor der Balkontüre, sitzt Bert und sieht ihn flehend an. Wieder einmal stellt Ernie fest, dass es nur so lange gut ist, als der Intelligentere anerkannt zu werden, solange Bert das aus der Ferne bewundert.
„Ruhe bewahren, Soldat.“
Es hilft. Bert setzt sich sofort ganz aufrecht hin und Ernie ist sich sicher, dass er salutieren würde, wenn er dabei nicht auf die Schnauze fliegen würde. So dumm, dieser Hund, so dumm. Er kapiert nicht, dass die Anrede ‚Soldat‘ ein Witz ist und fühlt sich davon geehrt.
Doch dann verschwindet Ernies Hohn und Spott auf einen Schlag. Denn dann hören sie beide ein unheilversprechendes Knacksen.
Die Haustüre.
Normalerweise ist das kein schlechtes Knacksen. Entweder bedeutet es, dass jemand zurück nach Hause kommt – was wiederum Essen bedeutet – oder dass alle das Haus verlassen und sie alleine sind.
Heute ist es ein schlechtes Knacksen.
Heute bedeutet es nämlich nichts von beidem. Heute bedeutet es, dass die Invasion der Kinder beginnt.
Ernie macht intuitiv einen Buckel, er faucht. Bert jault wieder. Dann beschließt Ernie, bei der Militärsprache zu bleiben.
„Rückzug!“
Bert gehorcht sofort. Er rennt los, gerät dabei ins Schlittern und rutscht fast auf dem glatten Holzboden aus. Ausnahmsweise kann Ernie sich nicht darüber lustig machen – er ist damit beschäftigt, von seinem Thron, pardon, Fensterbänkchen, zu springen und ihm zu folgen.
Der Hund stürzt sich auf sein riesiges Hundekissen, das dabei bis zur Wand rutscht, der Kater hastet in sein Katzenkörbchen. Die Suche nach einem bequemen Platz dauert diesmal besonders lange, dann streckt er seinen Kopf durch die Öffnung nach draußen und sieht hinüber zu Bert.
Normalerweise darf Bert ja nicht so nahe bei ihm sitzen. Sie haben eine ganz klare Trennlinie, die quer durchs Wohnzimmer vom Bücherregal zur Türe verläuft, und Bert darf sie nur überqueren, um durchs Wohnzimmer zu laufen. Heute ist die Grenze egal, Bert durfte schon vorher sein Kissen neben Ernies Katzenkörbchen ziehen.
Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.
Bert zittert am ganzen Leib, er versucht, sein Gesicht ins Kissen zu pressen. Und draußen auf dem Gang hören sie die Kinder, die schreien, kreischen und lachen.
„Bert?“
Ein kurzes Fiepsen und ein zuckendes Ohr zeigen Ernie, dass Bert ihn gehört hat.
„Wir packen das, okay?“
Wieder ein Fiepsen. Ernie meint, dass es zumindest ein bisschen hoffnungsvoller klang. Er will ihm gerade noch etwas Beruhigendes sagen, „Feiner Junge“ oder so etwas, doch dann öffnet sich die Wohnzimmertüre und er erstarrt.
Sie haben sie gefunden.
So schnell schon? Das ist doch unfair. Er war gerade noch damit beschäftigt, sich zu denken, dass er dieses Halloweenfest überstehen könnte, ohne von einem lauten Kind mit klebrigen Fingern aus seinem Körbchen gezogen zu werden und danach von der ganzen Horde verkleidet zu werden.
Und Bert geht es genauso, abgesehen davon, dass er auf seinem Kissen weniger versteckt ist und sich dementsprechend immer ein kreischendes Kinderrudel auf ihn wirft.
Aber dann sieht er etwas, was ihn auf einen Schlag wieder beruhigt.
Er kennt die Beine – sie gehören zur Kleinen. Bei ihr kann er es auch wagen, den Blick weiter nach oben wandern zu lassen, schließlich trägt sie keine grauenvolle Maske. Ernie tut es und stellt zu seiner Erleichterung fest, dass es wirklich das jüngste Mitglied der Familie ist.
Ein rosa Tüllrock, ein glitzerndes Oberteil und eine Krone sind ganz eindeutig der Kleinen zuzuordnen, die auch an Halloween nicht auf ihr Lieblingskostüm verzichten will. Sie sieht sich kurz um, dann tapst sie zu ihnen und geht vor Katzenkörbchen und Kissen in die Hocke.
Ernie spürt eine Welle der Zuneigung durch sich schwappen und das hat nur am Rande mit dem Teller in ihrer Hand zu tun – die Kleine ist sogar jünger als Bert und er und er hat sie, als sie hier ankam, unglaublich winzig und brüllend, sofort ins Herz geschlossen.
Den Teller stellt sie vor ihnen ab, dann versucht sie, Ernie und Bert gleichzeitig zu streicheln, mit je einer Hand. Ernie ignoriert großzügigerweise, dass sie dabei sein Auge tätschelt.
„Aber nicht der Mama sagen!“
Mit diesen Worten rappelt sie sich wieder auf und tappt aus dem Raum. Ernie sieht ihr lächelnd hinterher, während Bert schon den ersten Keks einatmet – so schnell, wie er ihn isst, kann man das gar nicht mehr als ‚essen‘ bezeichnen.
Nein, er wird die Kleine nicht verraten. Er hat sie ja nicht einmal verraten, als sie Bert die Beinhaare gekürzt hat. Okay, schlechtes Beispiel, er fand es unglaublich lustig, wie peinlich berührt Bert davon war.
Aber er hat sie auch nicht verraten, als sie ihm ein Schnurrhaar ausgerissen hat und das bedeutet echt viel.
Von der Seite kommt ein zufriedenes Schmatzen, die Kinder sind offensichtlich vorerst egal.
„Lecker. Kürbis.“
Auch Ernie nimmt sich einen Keks. Und tatsächlich hilft es auch ihm, die Kinder zu vergessen. Die Kekse ihres Frauchens sind unglaublich lecker und das gilt auch für die Kürbiskekse.
„Schisser.“
Leider hört Bert ihn nicht mehr. Er ist mit dem nächsten Keks beschäftigt.